Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1992

kaputten Glieder. ,,Istituti EliotherapiciCodivillaPutti" steht auf demSchild. Das Krankenhaus - der Himmel hat sich aufgetan. Schlafen, denke ich, nichts als schlafen . Eine Injektion, ein weißes Bett, keine Schmerzen, vergessen, träumen, denke ich .Wie einPalast steht die Klinik vor mir. ,,Ruhig, ganz ruhig", die Krankenschwester streicht mit weißen Hä nden über mein Haar. Sie öffnet das Tor. Die Männer tragen michhinein. Der Raum ist weiß und kalt. Regungslos liege ich auf demTisch, alles untermir ist steinhart. Ich spüre einen scharfen Stoß vomRücken bis zu den Beinen. Sie wollen mich ausziehen , ich habe Angst davor. Behutsam öffnet die Schwester die schmutzigeLodenhose, einer derBergrettungsmänner streift den Sitzgurt über meine Beine. Ich kralle meine Finger in die Tischkanten und schließe die Augen. Jetzt greifen vier Hände nach dem Hosenbund, andere Hände heben meinen Körper, die Hose gleitet über meine Beine. Ich öffne den Mund, aber der Schrei erstickt im Schmerz. Der Schrei bleibt in der Kehle stecken , als der Mann mit dem kalten Schurz eine Platte unter meinen Körper schiebt. Eisig drängt sich die Platte gegen den Rücken, dann gegen das Gesäß, dann gegen die Beine, dann gegen den linken Fuß, dann gegen den Kopf. Der große Apparat über mir hat kein Mitleid. Die Röntgenaufnahmen sind fertig . ,,Nicht schlimm", denke ich dankbar, als ich im dunklen Zimmer auf demweichenBett liege.DasBettist weich, aber der Körper liegt hart und steif. Nur der Kopf spürt das kühle Kissen, nur der Kopf liegt weich und klar, zu klar. Die Hitze erdrückt mich, die warmeLuftnimmtmirdenAtem,aber der Kopf bleibt vollkommen klar. Das Warten auf den Schlaf, auf die Erlösung, ist vergeblich. Minuten, Stunden, die Zeit hebt sich auf. Zeit und Raum haben mich vergessen. Nur ich habe nicht vergessen . Ichmuß denken, weil mein Geist jetzt klar ist und mich an den Sturz erinnert. Schwarz, alles um mich ist schwarz. Die Nacht nimmt kein Ende. Der Kopf ist noch immer klar. Ich rieche die Erde, ich rieche den Fels, die Sonne, den Himmel; ich rieche das Land, das ich liebe. Ich sehe die majestätischen Felskolosse, die überhängenden gelben Wände, die senkrechten Risse, die blinkenden Karabiner, das rote Seil, denHelmdes Freundes, die senkrechte Nordostkante der Westlichen Zinne, das Geröll, denHimmel, die Funkgeräte, die Seile, denAbgrund. Ich steige höher und höher und lache und fliege und tanze und liebe. Der Wind verschluckt jeden Laut . Ein starker Windstoß nimmt mir den Atem. ,,Fünf Meter!" brülle ich. Endlich . Der Wind hat sich gelegt. Der Freund hat verstanden. ,,Stand, kannst kommen!" schreit er von oben . ,,Ich komme!" Der Überhang ist anstrengend. Ein Haken nach dem anderen, ein Karabiner nach dem anderen. Guter Fels, fest und rauh . Ich schaue in die Tiefe, sehe die Geröllhalde, das winzige Schneefeld, und ich fühle mich frei. Die Steigschlinge baumelt unter mir. Ich taste nach dem nächsten Haken, hänge die Schlinge aus, hänge sie in den nächsten Haken, schiebe den linken Fuß höher, dann den rechten. Die Kraft und die Herrlichkeit, denke ich . Der Fels ist wieder geneigter. Das Steigen wird unbeschwerter, schöner, ästhetischer. Jetzt sehe ich einen Kopf, dann den ganzen Körper. Wir lachen uns zu. Ich stehe auf einem kleinen Schuttband, atme einpaarmalfest durch, rücke den Helm aus der Stirn und steige weiter. Ein kleiner Griff für die rechteHand, nur einwinziger glatterVorsprung. Die Füße stehen fest auf einer kleinen Rippe.Die linke Hand schiebt sich höher - ein schöner Griff, groß und körnig. Die Linke klammert sich fester an den rauhen Stein. Dann - ein kleiner Ruck. Fels löst sich von Fels, Finger lösen sich vom loslösenden Fels. Polternd fällt ein Felsbrocken hinunter, schlägt auf , schlägt nochmals auf, wieder und wieder, reißt mehrere lose Steine mit in die Tiefe. Ich sehe und höre nichts mehr, ich fühle es nur. Die linke Hand tastet verzweifelt den Fels ab auf der Suche nach einem neuen Halt. Jetzt sehe ich über der emporgestreckten Linken einen Haken. Zwei Zentimeter fehlen noch, die Finger strecken sich. Noch ein Zentimeter, dann haben die Fingerspitzen die Hakenöse erreicht . Der Körper streckt sich noch mehr, die Beine strecken sich, die Zehenspitzen heben sich höher und werden noch 39

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