Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1991

Kälte überstehen zu können. Das hat– ten Karl und ich nicht berechnet, alles war auf Millimeter genau ausgemes– sen. Der Schock, als wir glaubten, es ginge nicht, es wäre alles umsonst. Umsonst - verstehst du .....!'. „Er hat erbrechen müssen", erzählte Andreas, den ich bei einer kleinen Ein– ladungbei Inge undMichael kennenge– lernt hatte und den ich zufällig auf einerBahnfahrtnachWienwiedertraf, ,,es war der schlimmste Augenblick. Michael ging auf die Seite, kotzte den frischen Schnee voll, kam zu– rück,trommelte wie wild mit den Fäu– sten auf denKofferraum. Und plötzlich war Inge ganz da. Sie war ganz still ge– wesen während der letzten Stunde, hatte immer nur „ja" gesagt, auf alles, was wir ihr einzuprägen versuchten, auch für den Fall, daß die Zöllner den Kofferraumöffnen und genau durchsu– chen sollten. Sie hatte immer nur ihr stilles „Ja" gesagt, als ob sie ihrem Mund den Auftrag zu einemWort gege– ben hätte, sie selbst aber ganz wo an– ders wäre. Plötzlich kam Leben über sie, das wäre doch gelacht, sagte sie,zog ihren Pullover aus und die Stie– fel, ich gab ihr noch ein zweites Paar Socken, sie warf den Mantel in den Schnee und zwängte sich in den Hohl– raum. Ihr langes, blondes Haar war ganz schön naß vom Schnee, auch ihre Schultern, ihr Gesicht. Sie kam nur Zentimeterweise voran, sie stöhnte, wir schoben und preßten. Das Blech war eiseskalt. Wir legten das nasse Haar um ihren Hals, strichen es glatt, damit sich keine Strähne befreien konnte. Michael küßte sie auf den Scheitel, sie sagte noch etwas, was fröhlich klang, was man aber auch über das Blechgehäuse dicht über ihrem Mund nicht mehr verstehen konnte. Wir schlossen den Deckel, montierten den Ersatzreifen darüber, packten die Decke und die Koffer dar– auf, legten die Flasche Wodka, die wir verzollenwollten, auf denRücksitz und fuhren los." Von da an war alles GUT gegangen. Andreas saß am Steuer, Michael gab die Klopfzeichen, stoppte die Wartezei– ten, ging schließlich mit dem Grenz– wachebeamten ins Büro. Der war leut– selig, bot ihmeinen Schluck heißenTee an, deutete auf den Schneesturm drau– ßen, lachte. Sie waren die einzigen, 44 kein Personenauto, kein Laster, kein Bus; auch in der Gegenrichtung war kein Verkehr. In derWärme der Zollstu– be brach Michael auf Stirn und Ober– körper der Schweiß aus, während es ihm kalt über den Rücken lief. Der Grenzer schäkerte mit dem Büromäd– chen, hielt auch ihr den Tee entgegen. Nach draußen blickend sah Michael, wie ein Soldat sein Maschinengewehr an seine linke Seite stellte, den Kragen seines Mantels hochschlug und sich den Schnee von den Augenbrauen rieb. Sie öffneten nicht einmal den Koffer– raum. Fragten nur kurz, händigten die Pässe aus. Der Grenzer blieb im Tür– rahmen stehen, als Michael einstieg, tippte kurz an seine Pelzmütze, grin– ste. Als Michael die Autotüre schloß, versuchte er, mit der anderen Hand einen neuerlichenBrechreiz zurückzu– halten. Klopfzeichen: zweimal. Im Schritt-Tempo näherten sie sich dem zweiten Schlagbaum, der ihnen schon langsamentgegenschwang. Als er sich hinter dem kleinen Fiat und den drei jungen Menschen wieder schloß, folg– ten ihnen die roten Lichter des Balkans wie glühende Augen. Rund 600Meter nach der österreichi– schen Grenze befreite Michael sein Mädchen, umarmte es, weinte in ihr nasses Haar. ,,Inge zitterte am ganzen Körper", erzählte Andreas weiter, als wir zwischen Linz und Amstetten im Speisewagen eine Kleinigkeit aßen, ,,sie hatte einen derartigen Schüttel– frost, daß sie Glieder und Kiefer nicht unter Kontrolle halten konnte. Ihr Ge– sicht war eingefallen, wie 30 Jahre äl– ter. Und dann sagte sie jenen völlig wi– dersinnigen Satz, den ich nicht vergessen kann. Jenen Satz, der mich an die Zeit erinnert, in der meinBruder und ich noch sehr klein waren. Unsere Betten standen eng nebeneinander, so daß wir uns an den Händen halten konnten. Ich fragte meinen Bruder in die geräuschlose Dunkelheit hinein: 'schläfst du schon?' und er antwortete vollenErnstes : 'Ja'. In demAugenblick also, in dem ihre vollkommen steifen Beine österreichischen Boden unter den Füßen hatten, ließ sich Inge in Mi– chaels Umarmung sinken, fast fallen, und fragte seltsam tonlos : 'Bin ich tot?' In ihren Augen, in ihrer Haltung, inihremGesichtwarsovielSchrecken, daß ich denken mußte: das läßt sich

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2