Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1991

erregen. Als sie schließlich um 14 Uhr das Haus verließen, brauchten sie ein– einhalb Stunden, um in die Nähe des Hradschin zu kommen, quer durch die Stadt mit allen Sehenswürdigkeiten und dem langsamen Schritt eines dick– leibigen Infarktgefährdeten. Und als sie es nicht mehr ausgehalten hatte, vorausgelaufen war und nach länge– rem Suchen durch die Innenhöfe der Burg hindurch endlich den Veitsdom gefunden hatte, war Michael schon ge– gangen, hatte sie gerade noch Zeit, die paar Zeilen zu schreiben und sie ins Kommuniongitter des linken Seitenal– tares zu stecken, bevor sie schnaufend eingeholtwurde. Wie sich in derNot die Augen oft an unscheinbaren Details festsetzen, war ihr in ihrem hastigen Lauf das Haus Karlowa Nummer drei aufgefallen, weil ihr an dessenTüre ein glänzendes Messingschild entgegen– geleuchtet hatte und ihr die Hausnum– mer zufällig-willkürlich im Gedächt– nis geblieben war. Noch sechs Kilometer bis zur Gren– ze. Die Gegend war dünn besiedelt, die Straße kurvenreich, hügelauf, hügel– ab. Die Fruchtbarkeit des böhmischen Landes schlafend in vergangenen Jahrhunderten, versunken in dichtem Nebel. Schwacher Lichtschein von manchem Haus über die niederen Vor– gartenzäune hinweg, schwarze Silhou– etten verkrüppelter Obstbäume. Im letzten Dorf, das sie passierten, stand ein schüterer Fichtenbaum am Rande des Platzes - vier Elektrokerzen deu– teten darauf hin, daß bald Weihnach– ten sein sollte. In den Waldstücken und in den Senken Straßenglätte, kaum Verkehr. Sie hatten alles noch einmal bespro– chen. Und noch einmal, noch einmal. Sie rechnetenungefähr eine Stundemit allen Formalitäten. Während der letz– ten Fahrtkilometer wurde Inge immer stiller. Sie saß, ganz an das Fenster der linken Hintertüre gedrückt, schaute in die Nacht, hielt Micheals Hand sehr fest. Diese war feucht, aber er sagte: ,,Es wird alles gut gehen .....!' ,,Ja." ,,Fünf Klopfzeichen: Vorkontrolle." ,,Ja." ,,Vier Klopfzeichen: erster Schlagbaum." ,,Ja." ,,Drei Klopfzeichen: Grenzstation. Und noch einmal drei, wenn es länger dauern sollte und dann nur mehr zwei beimzweiten Schlagbaumund eines.....!' ,,Ja. Nur mehr eines im Nie– mandsland." „Bei der österreichischen Grenze keines mehr, das geht ganz schnell." ,,Ja." Das langsame Auf- und Abwinken der Taschenlampe. Gespensterzei– chen in der Dunkelheit, im Schneege– stöber, das vor kurzem mit großer Dichte eingesetzt hatte. So weiß die Flocken in der Schwärze der Nacht. Leichtes Schleudern beim Bremsen, sie hatten keine Winterreifen. Zwei Grenzpolizisten in langen, grünbrau– nen Militärmänteln, der eine ein Ma– schinengewehr im Anschlag, der an– dere ein Funkgerät nahe an den Lippen. Blick in denWagen - zwei Per– sonen - die Pässe, die Pässe zurück - das Winken zur Weiterfahrt. ,,Wir waren darauf vorbereitet", sag– te Michael einmal, als er unseren klei– nen Sohn, dessen Taufpate er war - Inge und er hatten keine Kinder - nach der Mette durch den Schneesturm trug, ,,wir wußten, daß es zweieinhalb Kilometer vor der Grenze diesen Vor– posten gab. Darum mußten wir Inge schon vorher in dem Zwischenboden über der Hinterachse verstecken. Wir hatten hierfür ein Waldstück mit einer Seitenstraße, die sich unter den Bäu– men verlor, vorgesehen. Inge war warm angezogen, sie hatte einen dicken Pullover unter ihrem schwar– zen Mantel an und Pelzstiefel, um die Aktionäre Auf einer Aktionärsversamm– lung ging es stürmisch zu, da die Gesellschaft nur eine kleine Dividende zahlen konnte. Da flü– sterte ein Vorstandsmitglied ei– nem Kollegen zu: ,,Die Aktio– näre sind Lämmer, wenn die Geschäfte gut gehen, aber Tiger, wenn die Geschäfte schlecht gehen." ,,Ja", bestätigte der andere, ,,aber Viecher sind sie immer!" 43

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