Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1959

Kinderleoende Von Veronika Handlgruber=Rothmayer: Schon oft war die Kleine am Rathaus der Stadt vorbeigekommen, wenn sie von der Schule in das Kinderheim zurückkehrte. Seit sie lesen konnte, machte es ihr Spaß, die Plakate der öffentlichen Anschlagtafel zu entziffern, was freilich nicht hieß, daß sie die Texte immer verstand. Sie waren manchmal recht seltsam und oft geradezu geheimnisvoll. Heute erregte ein großer Bogen mit zahlreichen Bildern — sie zeigten durch¬ wegs Kinderköpfe die Aufmerksamkeit des kleinen Mädchens. Nachdenklich be¬ trachtete es die vielen Gesichter, helle, dunkle, lachende, ernste, ältere, jüngere, Bu¬ ben und Mädel, bis seine Augen denen eines kleinen Mädchens begegneten, das die Beschauerin fragend anblickte. Obwohl die Waise nur selten in den halbblinden Spiegel im Waschraum des Kinderheimes schaute, es wäre ja Eitelkeit gewesen, eine Eigenschaft, die durch Schwester Fredegundis ihren Schutzbefohlenen als besonders abstoßend hingestellt — wurde gelangte das Kind beim Anblick des erwähnten Gesichtes zu der über¬ raschenden Erkenntnis, das eigene Antlitz zu schauen. Nachdem die Kleine ihr Ebenbild eine Weile mit neugieriger Scheu und nach¬ denklichem Ernst betrachtet hatte, begann sie aus dem Bestreben heraus, Klarheit zu finden, den Text unter dem Bild zu buchstabieren, der lautete: Name des Mädchens unbekannt, Geburtsjahr vermutlich 1944. Das Kind wur¬ de im März 1945 von einem verwundeten Soldaten in polnisch Schlesien auf¬ gefunden und bei der nächsten Fürsorgestelle in G., Kreis M., abgegeben. Da das Kind mit diesen Worten nicht viel anzufangen wußte, entzifferte es auch die Texte unter den anderen Photographien, —um solche handelte es sich zweifelsohne, die einander auffallend ähnlich waren. Bei allen Kindern waren Name und Herkunft unbekannt, also Merkmale, die aus der Schar der abgebildeten Knaben und Mädchen eine schicksalhaft verbündete Gemeinde namenloser Waisen machte. Prüfend schaute die Schülerin von einem Gesicht in das andere: Je eindring¬ licher sie die Züge der fremden und ihr doch heimlich verbundenen Gefährten be¬ trachtete, desto deulicher wurde es ihr, daß sie nicht leblose Bilder, sondern atmende Geschöpfe vor sich hatte. Alle Kinder auf der Plakatwand lächelten plötzlich und nickten der Kleinen freundlich zu, als sei sie eine vertraute Spielkameradin, die es zu begrüßen gelte. Erschrocken, erstaunt und entzückt zugleich beobachtete das kleine Mädchen die wunderbare Wandlung der eben noch stummen Kinderbildnisse in lebendige Ge¬ fährten, die auf die Überschrift zu ihren Häuptern wiesen, als sei dort der Schlüssel zu ihrem Geheimnis zu sinden. „Wo sind die Angehörigen dieser Kinder?“ stand dort in fetten, großen Lettern, eine ernste, gewichtige Frage, eine Schicksals¬ frage gleichsam, welcher die Nüchternheit des gedruckten Wortes kaum gerecht wurde. Die Kleine war sich über den Sinn dieser Zeilen ebensowenig im klaren wie über den Text unter den Bildern. Doch ihr junges Herz wurde jählings aufgewühlt durch die Ungeheuerlichkeit dieser Fragestellung, die dem Kind mit einem Male die 37

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