Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1958

„Ich weiß nirgends mehr zu suchen“, hatte mein Vater gesagt und war er¬ schöpft auf seinen Stuhl gesunken. „Wenn er sich im Walde vergangen hat oder unter dem Schnee liegt!“ rief die Mutter und erhob ein lautes Klagen. „Sei still davon!“ sagte der Vater, „ich mag's nicht hören.“ „Du magst es nicht hören und hast ihn mit deiner Herbheit selber vertrieben.“ „Mit diesem Zweiglein hätte ich ihm kein Bein abgeschlagen“, sprach er und ließ die Birkenrute auf den Tisch niederpfeifen. „Aber jetzt, wenn ich ihn erwisch', schlag' ich einen Zaunstecken an ihm entzwei.“ „Tue es, tue es — 'leicht tut's ihm nicht mehr weh“, sagte die Mutter und begann zu schluchzen. „Meinst, du hättest deine Kinder nur zum Zornauslassen? Da hat der lieb' Herrgott ganz recht, wenn er sie beizeiten wieder zu sich nimmt! Kinder muß man liebhaben, wenn etwas aus ihnen werden soll.“ Hierauf sagte er: „Wer sagt denn, daß ich den Buben nicht liebhab'? Ins Herz hinein. Gott weiß es! Aber sagen mag ich ihm's nicht; ich mag's nicht und ich kann's nicht. Ihm selber tut's nicht so weh als mir, wenn ich ihn strafen muß, das weiß ich!“ „Ich gehe noch einmal suchen!“ sagte die Mutter. „Ich will auch nicht dableiben!“ sagte er. „Du mußt mir einen warmen Löffel Suppe 200 essen! 's ist Nachtmahlzeit“, sagte sie „Ich mag nicht essen! Ich weiß mir keinen anderen Rat“, sagte mein Vater, kniete zum Tisch hin und begann still zu beten. Die Mutter ging in die Küche, um zur neuen Suche meine warmen Kleider zusammenzutragen, für den Fall, als man mich irgendwo halb erfroren finde. In der Stube war es wieder still und mir in meinem Uhrkasten war es, als müsse mir vor Leid und Pein das Herz platzen. Plötzlich begann mein Vater aus seinem Gebete krampfhaft aufzuschluch¬ zen. Sein Haupt fiel auf den Arm und die ganze Gestalt bebte. Ich tat einen lauten Schrei. Nach wenigen Sekunden war ich von Vater und Mutter aus dem S Gehäuse befreit, lag zu Füßen des Vaters und um¬ klammerte wimmernd seine Knie. „Mein Vater, mein Vater!“ Das waren die einzigen Worte, die ich stammeln konnte. Er langte mit seinen beiden Armen nieder und hob mich auf zu seiner Brust und mein Haar ward feucht von seinen Zähren. Mir ist in jenem Augen¬ blick die Erkenntnis aufgegangen. Ich sah, wie abscheulich es sei, diesen Vater zu reizen. Aber ich fand nun auch, warum ich es getan hatte. Aus Sehnsucht, das Vaterantlitz vor mir zu sehen, ihm ins Auge schauen zu können und seine zu mir sprechende Stimme zu hören. Sollte er schon nicht mit mir heiter sein, so wie es andere Leute waren, so wollte ich wenigstens sein zorniges Auge sehen, sein herbes Wort hören; es durchrieselte mich mit süßer Gewalt, es zog mich zu ihm hin. Es war das Vaterauge, das Vaterwort. Kein böser Ruf mehr ist in die heilige Christnacht geklungen und von diesem Tage an ist vieles anders geworden. Mein Vater war seiner Liebe zu mir und meiner Anhänglichkeit an ihn inne geworden und hat mir in Spiel, Arbeit und Erholung wohl viele Stunden sein liebes Angesicht, sein treues Wort geschenkt, ohne daß ich noch einmal nötig gehabt hätte, es mit List erschleichen zu müssen. 49

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