Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1958

Er fühlte sich dem Ziel seiner Reise nahe und verbarg seine weißen welken Hände in den Manteltaschen. Als er das Gehöft seiner Eltern hinter der Biegung auftauchen sah, verlang¬ samte er seinen Schritt. Zögernd näherte er sich dem Haus. Es hatte sich kaum verändert. Eine neue Scheune war angebaut worden und das Dach war mit altersgrauen Schindeln ge¬ deckt. Zu seiner Zeit war es mit Stroh gedeckt gewesen, mit großen braungrünen Moosflecken darauf. Da er fürchtete, angesprochen zu werden, schlug er einen Bogen und schritt von hinten auf das Haus zu. Dort stand das Gras zwischen den buschigen Obstbäumen dunkelgrün und saftig. Ein Schaf blökte klagend und lief im Kreis um den Pflock, an den es ge¬ bunden war. Der kleine Gemüsegarten schien ein wenig verwildert zu sein. Aber es standen noch dieselben Blumen rund um den Zaun wie vor mehr als fünfzig Jahren. Um diese Jahreszeit waren es riesige Dahlien und Georginen in glühenden Farben. Daneben standen die Sträucher der Schwertlilien und Pfingstrosen und das lichte Grün der Herzblumen. Aus dem abgehauenen Schneeballbaum war ein schlanker junger Stamm her¬ vorgewachsen. Während der Professor auf die brennenden Dahlien niedersah, tat etwas in seiner Brust sehr weh. Er wußte, daß er etwas versäumt hatte, was nicht wieder gutzumachen war. Mühsam trennte er sich vom Anblick des Gartens und ging vor das Haus. Dort setzte er sich auf die Bank in die Sonne. Eine weiße Katze rieb den runden Kopf an seiner Hand und starrte aus schmalen Augen ins Licht. Ohne es zu wissen, streichelte er ihr knisterndes Fell. Später kam der Bauer über den Hof und lud den alten Mann im schäbigen Mantel ins Haus. In der Stube setzte sich der Professor auf die Ofenbank und der Bauer brachte ihm Brot und Most. Er kaute langsam die dunkle Rinde und trank den Apfelmost in kleinen Schlucken. Alle seine Sinne erinnerten sich plötzlich mit brennender Deutlichkeit. Der Geschmack des Brotes, der warme, säuerliche Geruch aus der Küche und das ein¬ Ge¬ tönige Summen der Fliegen an den Fensterscheiben, alles überfiel ihn mit walt. Es war gar nicht nötig, die Augen zu öffnen. Er sah die hagere Gestalt seines Vaters im Herrgottswinkel und rund um den Tisch die Schar seiner Ge¬ 37

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2