Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1956

in Marja Gawrilownas Augen nicht, die (wie überhaupt alle jungen Damen) Un¬ arten gerne verzieh, wenn sie Kühnheit und Temperament verrieten. Vor allem aber... (mehr als seine Zartheit, mehr als seine Unterhaltungs¬ gabe, mehr als die interessante Blässe, mehr als der bandagierte Arm) mehr als dies alles reizte das Schweigen des jungen Husaren ihre Neugierde und ihre Ein¬ bildungskraft. Sie konnte nicht umhin, sich selber einzugestehn, daß sie ihm sehr gefiel; wahrscheinlich hatte aber auch er mit seinem Geist und mit seiner Erfahrung wahrnehmen können, daß sie ihn auszeichnete; warum hatte er denn aber noch nicht zu ihren Füßen gelegen, warum hatte sie noch kein Geständnis von ihm vernom¬ men? Was hielt ihn zurück? Befangenheit, die ja von wahrer Liebe nicht zu trennen ist, Hochmut oder das berechnende Wesen eines schlauen Lebemannes? Das war für sie ein Rätsel. Nach gründlicher Überlegung kam sie zu der Ansicht, daß eben nur Befangenheit der einzige Grund für sein Verhalten sein könne, und so beschloß sie denn, ihn durch größere Aufmerksamkeit und, je nach Umständen, selbst durch Zärtlichkeit zu ermutigen. Sie bereitete eine gänzlich überraschende Lösung vor, und voller Ungeduld wartete sie auf den Augenblick, der das romantische Geständnis bringen würde. Das Geheimnis, gleichviel welcher Art, ist dem weiblichen Herzen stets eine drückende Last. Ihr taktisches Vorgehen brachte den gewünschten Erfolg: jedenfalls verfiel Burmin in ein derartiges Grübeln, und seine schwarzen Augen hafteten mit einem solchen Feuer an Marja Gawrilowna, daß es den Anschein hatte, der entscheidungsvolle Augenblick könne nicht mehr ferne sein. Die Nachbarn sprachen schon von der Hochzeit als von einer ausgemachten Sache, während die gute Praskowja Petrowna selig war, daß ihre Tochter nun endlich einen ihrer würdigen Freier gefunden habe. Einmal saß die alte Dame allein im Salon und legte eine große Patience; da kam Burmin in das Zimmer und erkundigte sich so¬ gleich nach Marja Gawrilowna. Sie ist im Garten“ erwiderte die alte Frau, „gehen Sie zu ihr; ich erwarte Sie hier.“ Burmin entfernte sich; die Greisin be¬ kreuzigte sich und dachte im stillen: „So Gott will, kommt die Sache heute zum Abschluß!“ Burmin fand Marja Gawrilowna am Teich, unter einer Weide, mit einem Buch in der Hand, in einem weißen Kleide, wie eine echte Romanheldin. Gleich nach den ersten Fragen unterließ es Marja Gawrilowna absichtlich, die Unter¬ haltung fortzusetzen; hierdurch wurde die beiderseitige Verlegenheit gemehrt, und man konnte ihrer nur durch eine plötzliche und entschlossene Erklärung Herr werden. So geschah es auch: Burmin, der das Peinliche seiner Lage empfand, erklärte, er habe schon lange nach einer Gelegenheit gesucht, ihr sein Herz zu eröffnen, und so bäteer sie denn um einen Augenblick Gehör. Marja Gawrilowna schloß das Buch und senkte den Blick zum Zeichen ihres Einverständnisses. „Ich liebe Sie“, begann Burmin, „ich liebe Sie leidenschaftlich . . .“ (Marja Gawrilowna errötete und neigte den Kopf noch tiefer.) „Es war unvorsichtig von mir, mich einer lieben Gewohnheit hinzugeben, der Gewohnheit, Sie täglich zu sehen und zu hören.“ (Marja Gawrilowna mußte an St. Preux' 1. Brief denken.) „Nun ist es schon zu spät, mich dem Schicksal zu widersetzen; die Erinnerung an Sie, Ihr geliebtes, unvergleichliches Bild wird von nun ab immerdar die Qual und die Beseligung meines Lebens sein; es liegt mir aber noch ob, einer schweren Pflicht zu genügen, Ihnen ein furchtbares Geheimnis zu enthüllen und zwischen uns eine unüberschreitbare Grenze zu ziehen ...“ „Diese Grenze hat immer bestanden“, unterbrach ihn Marja Gawrilowna mit Lebhaftigkeit, „niemals hätte ich Ihre Frau werden können!“ „Ich weiß es“, gab er ihr leise zur Antwort, „ich weiß, daß Sie dereinst ge¬ liebt haben, aber der Tod und drei Jahre des Haderns mit dem Geschick... Liebe, gute Marja Gawrilowna, versuchen Sie nicht, mich um den letzten Trost zu brin¬ gen: der Gedanke, daß Sie Ihre Einwilligung gegeben haben würden, mich glück¬ lich zu machen, wenn... 74

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