Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1956

zu erfahren, wie es ihr ginge und wie sie geschlafen habe. Das Mädel kam mit dem Bescheid zurück, das gnädige Fräulein habe schlecht geschlafen, aber nun ginge es besser und sie würde nun gleich selber im Salon erscheinen. In der Tat, die Tür ging auf, Marja Gawrilowna erschien und begrüßte Papachen und Mamachen. „Was macht dein Kopf, Mascha?“ erkundigte sich Gawrila Gawrilowitsch. „Es geht schon besser, Papachen!“ antwortete Mascha. „Vielleicht hattest du gestern in deinem Zimmer Ofendunst, Mascha?“ meinte die Mutter. „Schon möglich, Mamachen!“ antwortete Mascha.. Der Tag lief ruhig ab; aber in der Nacht brach Mascha zusammen. Man schickte nach dem Arzt in die Stadt. Er kam gegen Abend und fand die Kranke im Fieberdelirium vor. Ein hitziges Fieber schüttelte sie, und die arme Kranke schwebte zwei Wochen hindurch zwischen Tod und Leben. Niemand im Hause wußte von der geplanten Flucht. Die am Vorabend ge¬ schriebenen Briefe waren verbrannt worden; die Zofe hielt reinen Mund, hatte sie doch den Zorn ihrer Herrschaft zu fürchten. Der Piester, der verabschiedete Kornett, der Landmesser mit dem Schnurrbart und der kleine Ulan hielten sich bescheiden im Hintergrunde und wußten recht wohl, warum sie schwiegen. Terjoschka, der Kut¬ scher, pflegte überhaupt nie ein überflüssiges Wort zu sagen, selbst dann nicht, wenn er über den Durst getrunken hatte. So kam es, daß das Geheimnis gewahrt blieb, obwohl mehr als ein halbes Dutzend Eingeweihter darum wußten. Aber Marja Gawrilowna selber gab in ununterbrochenen Fieberphantasien ihr Geheimnis preis Doch klangen ihre Worte so ungeheuerlich und waren mit nichts zu vergleichen, daß die Mutter, die keinen Schritt von ihrem Bette wich, ihnen nur zu entnehmen ver¬ mochte, ihre Tochter sei in Wladimir Nikolajewitsch geradezu wahnsinnig verliebt und diese Liebe sei wahrscheinlich auch der Anlaß ihrer Krankheit. Sie überlegte mit ihrem Mann, auch mit etlichen Nachbarn, und endlich kamen alle einstimmig überein, es wäre allem Anschein nach Marja Gawrilowna vom Schicksal so be¬ schieden; Armut sei keine Schande; auch lebe man ja nicht mit dem Reichtum, son¬ dern mit einem Menschen zusammen, und ähnliche Dinge mehr. Diese moralischen Sprichwörter pflegen in allen Fällen erstaunlich nützlich zu sein, wenn uns selber zu unserer Rechtfertigung gar nichts mehr einfallen mag. Inzwischen befand sich das Fräulein auf dem Wege der Besserung. Wladimir hatte sich schon längst nicht mehr im Hause Gawrila Gawrilowitsch blicken lassen. Er war durch den ihm sonst zuteil werdenden Empfang eingeschüchtert. Man be¬ schloß, einen Boten zu ihm zu senden und ihm das unwahrscheinliche Glück, näm¬ lich das Einverständnis der Eltern mit der Ehe, mitzuteilen. Wie groß war aber das Erstaunen der Gutsbesitzer von Nenaradowo, als sie als Antwort auf ihre Einladung einen halb wahnsinnigen Brief von ihm erhielten! Er erklärte, daß er seinen Fuß nicht mehr in ihr Haus setzen würde; auch bäte er, ihn, den Unglücks¬ vogel, zu vergessen; seine einzige Hoffnung sei der Tod. Nach etlichen Tagen er¬ fuhren sie, Wladimir habe sich in der Armee einstellen lassen. Das geschah im Jahre 1812. Lange Zeit wagte man es nicht, der Genesenden hiervon Mitteilung zu ma¬ chen. Auch erwähnte sie selber Wladimir mit keinem Wort. Als sie dann einige Monate hernach seinen Namen in einem Verzeichnis jener fand, die sich ausge¬ zeichnet hatten und bei Borodino schwer verwundet worden waren, fiel sie in Ohn¬ macht und man befürchtete schon einen Rückfall. Aber diese Ohnmacht hatte Gott sei Dank keine weiteren Folgen. Und noch ein anderer Kummer traf sie: Gawrila Gawrilowitsch starb, nachdem er sie zur Erbin seines gesamten Besitzes bestimmt hatte. Aber diese Erbschaft tröstete sie nicht; mit aller Innigkeit teilte sie den Gram der ärmsten Praskowja Petrowna, und sie schwor, sie würde sich nie im Leben von ihr trennen; sie verließen beide Nenaradowo, die Stätte so trauriger Erinnerungen, und verzogen auf ein anderes Landgut. 72

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