Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1956

Höfen Europas geübter Brauch. Leider haben sich nur wenige erhalten. Irgendwie war es letzter Überrest magischer Tradition. Die Puppe mußte höchst lebendig wirken, Augen wurden ihr eingesetzt, die Totenmaske war geglättet worden, natürlich war die Wachsbossierung farbig und mit der Krone gekrönt, die Hände auf der Brust gefaltet, lag die Puppe auf einem brokatenen Lager, rechts von ihr das königliche Zepter, links die „main de justice“ die goldene Hand der Gerechtigkeit, während die einbalsamierte Leiche bereits im Sarge ruhte. In dem Trauerzug, der sich vom Sterbeort durch die Straßen von Paris in Bewegung setzte, lag die Figur entweder auf einer eigenen Tragbahre oder oben auf dem Sarge und hielt die beiden Zepter nun in den beiden ausgewechselten Händen. Es gibt eine Darstellung der Leiche Kaiser Leopolds I., ebenfalls auf einem Bette ruhend, aber in der goldstarrenden Hoftracht ohne Krone und Zepter, wie sich auch kein Bericht über eine „effigies“ bei uns erhalten hat. Vom Prinzen Eugen weiß man, daß seine einbalsamierte Leiche im heutigen Finanzministerium in der Oberstenuniform seines Dragonerregimentes auf einem Paradebett aus Bro¬ kat zur Schau gestellt wurde. Auch vom Leichenbegängnis Ludwigs XIV. ist uns nichts von einer „effigies“ bekannt. Es scheint, daß der Gebrauch dem Hochbarock bereits zu barbarisch erschienen ist. In Frankreich wurde in Notre=Dame, die total schwarz ausgeschlagen war, die „effigies“ und der Sarg mit der Leiche (bis Ludwig XIII.) in der „chapelle ar¬ 77 dente“ aufgestellt, und hier wie schließlich in St=Denis vollzogen sich die letzten gottesdienstlichen Handlungen, worauf die „effigies“ in der Sakristei von St=Denis neben den Abbildungen der Vorgänger deponiert worden ist. Die einzige Totenmaske eines französischen Königs, die sich erhalten hat, ist die Heinrichs II., dem am 30. Juni 1559 bei einem Turnier mit dem Stumpf einer zersplitterten Turnierlanze so unselig durch das rechte Auge gestoßen wurde, daß er am 10. Juli starb. Der Ausdruck unsagbarer Qual liegt auf dieser Maske. Ein deutscher Reisender des 18. Jahrhunderts hat knapp vor der Französi¬ schen Revolution in St=Denis noch „die Reihe der französischen Könige, in Lebens¬ größe in Wachs gearbeitet, in roten Mänteln mit Zepter und Krone auf Stühlen sitzend“ gesehen und berichtet, daß alle Könige von Karl VIII. bis Ludwig XIII. vorhanden waren. Die Jakobiner haben bei der Beerdigung Marats auf die königliche Sitte der „effigies“ zurückgegriffen, und David hat eine wächserne Panoptikumpuppe Marats auf dem Sarg befestigt, die ihn in der Stellung zeigte, in der ihn der Stahl Char¬ lotte Cordays durchbohrt hatte. Am 1. August 1793 hat der Nationalkonvent ein Dekret erlassen, das die Zer¬ störung der Gräber und Mausoleen der „ci-devant rois“ für den 10. August 1793 anordnete. Der Magistrat von St=Denis aber ließ bereits vom 6. bis 8. August die Gräber der französischen Könige durch die Massen zerstören. Die kostbarsten histo¬ rischen Sinnbilder der französischen Monarchie wurden zerschlagen, die Mumien der Könige aus den Särgen gerissen, auf die Straße geworfen, zerhackt und zer¬ trümmert. Zwei Bürger retteten aus dem Chaos, was zu retten war, überführten die Trümmer in das Depot im Kloster des Petits Augustins, darunter auch die Toten¬ maske Heinrichs II., von wo sie 1816 in das Magazin von St=Denis und 1882 in den Louvre kam. Italien war das einzige Land, das die magische Bedeutung der Totenmaske kaum gekannt hat. Sie diente als Hilfsmittel des Künstlers bei der Modellierung von Porträts. Ja, man hat für die Büste Torquato Tassos direkt die Totenmaske verwendet, deren Augen einfach geöffnet wurden. Auch die Büste des Architekten Domenico Paganelli, der 1614 starb, wurde um die Totenmaske arrangiert, der man Glasaugen einsetzte. Sonst ist die Totenmaske bei den Italienern ihrer künst¬ lerischen Bedeutung halber geformt worden. Zu den ältesten, die sich erhalten haben, 58

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