Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1949

Unserem Lehrer kam ja nichts gelegener als ein so erfrischendes Zwischen¬ spiel; hatte er doch jetzt die selten sich fügende Gelegenheit, für die toten Buch¬ staben eines Buches, die er vor eisig ablehnenden Kinderherzen in Blut und Leben zu wandeln sich mühte, das frische Wort eines Knaben zu setzen, der alles aus eigener Erfahrung kannte. So wie dieser Mann dachte und handelte, mußte es ihn ja förmlich reizen zu erfahren, was ein solcher, noch ganz spiel¬ eliger Knabe an Eindrücken behalten und an welche Stelle der Wertreihe er sie einzeln setzte. So rief er mich denn kurzerhand zum Katheder, überließ mir bereitwillig diese beherrschende Höhe, indem er zu den Schülern herabstieg, und wies mich an, den Weg auf den Pfänder und den sich dort darbietenden Rund¬ blick in allen Einzelheiten zu beschreiben. Mich überfiel ein lähmender Schrecken. Ich hörte förmlich, wie alle Brücken, die mich mit der Umwelt verbanden, mit eins in die Tiefe brachen und fühlte mich grenzenlos verlassen. Noch nie hatte ich frei vor Zuhörern gesprochen, und jetzt, da mich dieses in den Schulen immer gefürchtete Los als ersten in der Klasse traf, sollte ich ohne Vorbereitung über eine Bergfahrt be¬ richten, die ich gar nicht unternommen, ich sollte mich sogar über Einzelheiten verbreiten, auf die gerade dieser Lehrer so viel hielt, ich sollte noch dazu greif¬ bar deutlich machen, was ich selbst niemals gesehen, und das alles aus einer Begabung heraus, die in eine andersgeartete Richtung schlug, der gerade die Aufmerksamkeit auf Einzelheiten der Erscheinung fremd war und die darum auch nicht über jene sinnliche Phantasie verfügte, um an die Stelle der Wahr¬ heit den glaubwürdigen Schein der Dichtung zu setzen. Wie bereute ich jetzt meinen Vorwitz! Aber es war dafür zu spät. Und so trat ich aus der Bank, aus der mir die Nachbarn nur zu bereitwillig den Weg freigaben, ich trat müden Schrittes zum Katheder hinauf und sah nun die chadenfrohen Gesichter der Kameraden vor mir, die sich in die behaglichen Hüllen ihrer Sicherheit kuschelten und sich nun unbelasteter Minuten erfreuen durften; ich fühlte die ernst prüfende Miene des Lehrers auf mir ruhen. Ich begann, zögernd und zunächst nach Worten ringend, die wie einzelne Tropfen in die atemlose Stille fielen. Ich holte weit aus und schilderte zunächst die Fahrt über den Arlberg, ich ließ mir sehr Zeit, um nach Bregenz zu kom¬ men, und als es endlich doch sein mußte, lief ich hurtig den Weg meiner Phan¬ tasie zum Gipfel des Pfänders hinauf, so verdächtig schnell, daß sich der Lehrer einiger Zwischenfragen nicht enthalten konnte. Und da log ich denn in meiner Verzweiflung das Blaue vom Himmel herunter, während mich plötzlich ein neuer, ungeheuerlicher Gedanke quälte: wenn nun dieser Lehrer selbst schon auf diesem Berge gewesen wäre? Ich wagte einen Blick auf ihn hin, aber seine Miene war nach wie vor undurchdringlich. Aber nun war ich endlich auf dem Gipfel, und jetzt ließ ich meine Er¬ zählung breit verströmen. Ich schilderte den Blick auf den See und das Ge¬ birge, wie ich ihn vom Gebhartsberge aus genossen hatte, ich sprach von den Städten an den Ufern, die ich besucht, über die Eindrücke, die sie mir hinter¬ lassen und setzte als Krönung dieser Schau einen begeisterten Bericht über das Luftschiff des Grafen Zeppelin, dessen Anblick mir als das merkwürdigste und wirkungsvollste aller meiner Reiseerlebnisse schien. Ich war zu Ende und setzte mich still in meine Bank, indes der Lehrer aufmunterndes Lob spendete und damit begann, den Aufbau einer Rede dar¬ zulegen. Ich war viel zu mitgenommen, um aufmerksam zu folgen. Ich hörte zwar von Gliederung und Steigerung, von Spannungsmomenten und Ruhe¬ punkten, aber ich hing ganz anderen seltsamen Gedanken nach, die noch weit über das Läuten des Schuldieners hinwegreichten, mit dem diese aufregende Stunde ihr Ende nahm. 112

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