Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1949

tuend berührende Wärme legte, nahm wiederum ein Lesestück vor, welches diesmal vom „Pfänder“ handelte, jenem berühmten Aussichtsberge der öster¬ reichischen Grenzstadt Bregenz. Meinen Kameraden ging diese Lektüre freilich ebensowenig tief wie jener Spaziergang durch den Wald. Mich aber durchzuckte das neue Thema wie ein elektrischer Schlag! Kaum verblaßte Bilder traten in ihrer vollen Leuchtkraft wieder vor mich hin, und die peinlich sorgsame Art, mit der wir den Spuren des Erzählers folgen mußten und die unser Lehrer nur noch vertiefte und er¬ weiterte, indem er uns dazu anhielt zu prüfen, ob der Verfasser nicht noch mehr hätte sehen oder das Geschaute nicht noch farbiger, plastischer hätte ver¬ mitteln können: diese Art, sage ich, versetzte mich in einen erregten Zustand, der sich rasch bis zur Unerträglichkeit steigerte. Hatte ich nicht alles, was wir da umständlich ausmalten, selbst mit Augen gesehen, zwar nicht vom Pfänder aus, sondern von dem viel niedrigeren Hügel des Gebhartsberges: die bis an die Grenze des weiten Horizontes sich hindehnende, unendlich scheinende See, die leuchtenden Punkte der auf ihr kreuzenden Segelboote, die still ihre Bahn ziehenden Dampfer mit den feinen Strichen ihrer Kiellinien, die auf Inseln sich zusammendrängenden, an die baumumstandenen kühlen Buchten des „Schwä¬ bischen Meeres“ sich schmiegenden Städtchen, Dörfer, Schlösser und Land¬ häuser, und den ewigen Kranz der Berge, der im Süden den Blick aufsaugt? Ich hätte es am liebsten hinausgeschrien, daß ich das alles selbst erlebt. Aber es bot sich keine zwanglose Gelegenheit zu einem solchen Bekenntnis, und eine zusammenhanglose, einfache Mitteilung wagte ich nicht; sie wäre mir wie eitles Prahlen erschienen, vor dem ich mich hütete, weil ich die Kameraden kannte, die alles Außergewöhnliche mit ihrer Spottlust bedachten oder ver¬ letzend gleichgültig darüber hinweggingen. Da kam eine Stelle inmitten der Erzählung, bei der ein Herüberleuchten der Kirchturmspitzen von Konstanz Erwähnung fand. Obgleich ich nicht wußte, wie sich der Bodensee vom Pfänder aus dem staunenden Blicke darbiete, war ich von dem nun nicht mehr eindämmbaren Mitteilungsbedürfnis so über¬ wältigt, daß ich mit den Worten in die große Stille des Nachmittages platzte: „Das ist nicht möglich, Herr Professor!“ Die Längenerstreckung des Bodensees ist viel zu groß, um Konstanz sehen zu können!“ Erstaunt sah der Lehrer vom Podium zu mir in die Bank herab. Die Blicke aller Mitschüler richteten sich auf mich, und so stand ich mit einem Male im Brennpunkt eines für mich gefähr¬ lichen Interesses. Ich hatte meine Absicht nun wohl erreicht, ohne freilich zu ahnen, was noch kommen werde. Die nächste und natürliche Folge war, daß mich der Lehrer fragte, ob ich denn schon selbst auf dem Pfänder gewesen sei, und ich hätte schlicht antworten sollen: Nein, wohl aber auf dem Gebhartsberg! Aber — durchzuckte es mich — wäre dadurch nicht mein Einwurf widerlegt oder zumindest unwahrscheinlich geworden? Wäre ich damit nicht erst recht als Prahler erschienen, oder gar als ein unüberlegter Junge? Aus kindlichem Un¬ verstand glaubte ich, eine solche Gefahr auf alle Fälle bannen zu müssen, und da ich mich zudem aus jugendlicher Sorglosigkeit vor weiteren Fragen sicher glaubte, tat ich nach dem ersten Schritt in das Dickicht der Unwahrheit un¬ bedacht einen zweiten und gleich erschreckend weiten, indem ich, freilich zaghaft und verschämt, antwortete: „Ja“. Hätte ich die etwaigen Folgen dieser Notlüge besser bedacht, ich hätte mir beängstigende Minuten seelischer Folterung erspart! Aber wer kann auch in dem winzigen Bruchteil einer Sekunde alles Für und Wider zusammendrängen und die einzig richtige Entscheidung treffen? Ich hatte im Stillen gehofft, daß es mit meinem gelispelten Ja sein Bewenden haben werde. Weit gefehlt! 111

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