Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1927

62 und da es doch zu spät war, verließen sie den Palast und gelobten einander, weiterhin zu schweigen. Der König konnte den Anblick der Kette, die seine Gemahlin bis zuletzt geschmückt hatte, nicht ertragen und ver¬ schloß sie in einem Schrein. Dort lag sie bis seine einzige Tochter erwachsen war und sich vermählen wollte. Da schenkte sie ihr der König als Andenken an ihre Mutter. Die Prinzessin kam in ein fernes Land, gesund und strahlend glücklich; doch schon nach kurzer Zeit kam die Kunde, sie wäre in unheilbare Schwer¬ mut verfallen, und wieder eiwas später kam die Todesnachricht. Nun hatte den Einen derer, die um das Geheimnis der Kette wußten, schon lange die Neue gequält, nicht wenigstens nach dem Tode der Königin alles gesagt zu haben. Als die Todesnachricht den Prinzessin eintraf, beschloß er, sich endlich dem König zu offenbaren. Der aber hatte gerade von seinem Schwiegersohn die Perlenkette zurückbe¬ kommen als Andenken an sein Kind und war leidvoll in ihren Anblick ver¬ sunken, als jener Mann um Gehör bat. Zuerst wollte ihn der König in seinem Uebermaß des Schmerzes töten lassen, als er vernahm, wie wenig es bedurft hätte, sein Haus vor unermeßlichem Leid zu bewahren. Dann aber besann er sich und sagte: „Ich will dir das Leben schenken, weil du wenigstens jetzt den Mut hattest, zu gestehen; aber laß dich nie wieder vor mir blicken!“ Der König gab darauf den Befehl, die unheilvolle Kette zu vernichten, doch sie widerstand jedem Zerstörungsversuch. Da erkannte er den höheren Willen, gegen den alles Menschenleid und aller Men¬ schenzorn ohnmächtig sind und schenkte sie einer Kirche. Jeden Sonntag ward sie dem Volke gezeigt, und viel wurde von der Wunderkraft, die sie namentlich auf verstockte harte Menschen ausübte, erzählt. Viele Jahre vergingen, da wurde das Land vom Feinde heimgesucht; sie engten und plünderten, und auch die Kette fiel in ihre Hand. Niemand hatte jemals solche Perlen gesehen, ihr Anblick nachte die rauhen Herzen seltsam weich, so daß das Morden und Rauben auf¬ hörte und von Stund an Hab und Gut verschont blieb. Der Befehlshaber des Heeres behielt aller Beute nur die Kette für sich von und schenkte sie seiner Braut, die alsbald dem gleichen Schicksal anheimfiel wie die rüheren Besitzerinnen. Da nun in dem Lande niemand etwas von dem Ursprung der Perlen wußte, so nahm das Schicksal seinen Lauf und brachte vielen den Tod. Der Weise, aus dessen guten Taten die Kette hervorgegangen war, lebte längst als Heiliger im Paradies, als unser Herrgott ihm einst eine Gnade erweisen wollte, die Lauterkeit seines Herzens zu belohnen. Und der Heilige, dessen Ge¬ danken oft in Sorgen bei den zurückge¬ lassenen Perlen geweilt hatten, bat: „Herr, sag mir, was ist aus meiner Kette ge¬ worden?“ Der liebe Gott ließ ihn danach Ausschau halten. Der Heilige sah mit seinen himmlischen Augen alles: die viele Not, das Sterben vor der Zeit, nur aus Unwissenheit; und es packte ihn ein heißes Mitleid. Er bat um Erdenurlaub, stieg hinab und nahm die Kette an sich. Sie gehörte etzt einem ganz kleinen Kinde als Erb¬ teil, und als nun der Heilige gehen wollte, fiel das Mondlicht auf das Ge¬ sichtchen des sanft schlummernden Kindes. Da löste der Heilige die, ach so wenigen. Freudenperlen aus der Kette und legte sie dem Kinde behutsam auf das Bettchen, wo¬ rauf er beruhigt in das Paradies zurück¬ kehrte.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2