Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1926

82 Die Legende vom Heiligenschein. Von Anneliese Lerbs und mein krankes Weib und meine sechs Es lebte einst ein Heiliger, der war kleinen Kinder sind schutzlos dem Elend über alle Begriffe weichherzig und gut¬ preisgegeben!“ mütig; keiner Bitterkeit konnte er wider¬ Da stand der Heilige ratlos, denn stehen, keine Träne ungetroknet lassen. Geld oder Geldeswert besaß er nicht. Als er gestorben war und ins Paradies Wie sollte er so schnell Hilfe schaffen? einzog, erhielt er einen wunderschönen Während er noch überlegte und grübelte, Heiligenschein, seinen Taten angemessen. traf es ihn plößzlich wie eine Offenbarung: Von altersher war es im Himmel etwas hatte er doch, das auch im Menschen¬ Brauch, daß sich der liebe Gott einen augen wertvoll war, seinen Heiligenschein! Gehilfen auswählte, der ihm ein Jahr hindurch in seinen Regierungssorgen Schon löste er ihn von seinem Haupte, und in seinen Händen nahm er die beistehen mußte. Nach dieser Zeit bekam Gestalt einer Scheibe aus reinem Golde ein anderer das Amt und so immer an. Die bot er dem Manne dar, wehrte fort, bis die Reihe wieder an dem ersten war. allen überschwenglichen Dank ab und kehrte in das Paradies zurück. Als nun unserem Heiligen zum ersten Dort war man recht verwundert, Male die Wahl traf, sandte Gott ihn auf die Erde, damit er über das Tun und ihn ohne Heiligenschein kommen zu sehen; Treiben der Menschen Bericht erstatte. ihm selbst war auch etwas bänglich ums Herz, als er den lieben Gott berichten Freudig zog er seines Weges, als schlichter wollte. Bürgersmann gekleidet. doch über seinem Haupte schwebte, dem groben Menschen¬ Der aber sagte ernst lächelnd: „Ich weiß, ich weiß. Meinst du wirklich, ich augen unsichtbar, sein herrlicher, goldener kenne dein Herz nicht? Ich wußte, das Heiligenschein. Der Heilige fand auf Erden viel würde dir noch zuletzt einen Streich Herzeleid Trübsal, und sein weiches Herz spielen. du meinst sicher, sehr weise ge¬ ward ihm bleischwer in der Brust. Er handelt zu haben, nicht wahr? Soll ich merkte sich alles genau und nahm sich dir einmal zeigen, was dein Opfer genützt vor, unserem Herrgott recht beweglich hat? Er ließ den Heiligen auf die Erde Menschenleid zu schildern. das Am Abend seines letzten Erdentageshinabblicken. Der sah ein finsteres Verließ; lief ein Mann an ihm vorüber, wie gejagt in ihm lag ein bleicher, toter Mann, und von einer wahnwitzigen Angst. Der Heiligees war derselbe, dem er den Heiligenschein eilte ihm hastig nach, hielt ihn an und geschenkt hatte! fragte ihn nach der Ursache seiner Ver¬ „Siehst du“, sagte der liebe Gott, zweiflung. Als der Arme in die warmen, „nun will ich dir auch erzählen, was du nicht wissen kannst: Der Mann lief tiefen Augen des Heiligen blickte, fiel glückstrahlend zu seinen Gläubigern; die er vor ihm nieder und flehte: „Herr, hilf mir, ich habe eine Schuld zu bezahlenaber waren sehr befremdet, ihn plößlich und kann das Geld nicht aufbringen. im Besitz von Gold zu sehen. Man mißtraute ihm, brachte die Sache vor Wenn bis morgen die Schuld nicht beglichen ist, wirft man mich ins Gefängnis, dem Richter. Dort wurde er befragt;

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