Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1924

daß ich kaum meine Toilette zu beenden vermochte. Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich nicht meiner Person wegen diese nervöse Angst empfand. Wußte ich doch, daß ich der anerkannte Liebling des Publikums von Northopolis war und daß meine heutige Rolle unzweifelhaft großen Er¬ folg haben würde; und wenn ich auch unter anderen Umständen vielleicht eine leicht verzeihliche Unruhe bezüglich des Verdikts der hauptstädtischen Kunst¬ größen gefühlt hätte, so war doch Jenny an diesem Abend mein einziger, alles absorbierender Gedanke, meine einzige schreckliche, quälende Besorgnis. Nachdem ich endlich die letzte Hand an meine Toilette gelegt, begab ich mich in das Zimmer hinunter, in welchem sich die Mitwirkenden zu versammeln pfleg¬ ten. Ich fand die meisten berei's anwe¬ end und um Jenny gruppiert, die in ihrer weißen Satinrobe mit der schweren purpurroten Samtschleppe und dem blitzenden Geschmeide in dem weichen braunen Haar einen zauberhaft schönen Anblick darbot. Auf der Schwelle blieb ich stehen. Mir fehlte der Mut, einzutreten, denn ich wußte, daß Jenny eben eine Feuer¬ probe zu bestehen habe, die ich ihr nicht erleichtern konnte. Wenn man bedenkt, wie freundschaft¬ lich die Schauspieler untereinander ver¬ kehren, wie sie stets bereit sind, sich ge¬ genseitig Dienste und Gefälligkeitenzu erweisen, so muß es einen förmlich in Erstaunen setzen, zu sehen, mit welchem Vergnügen sie diejenigen zu quälen und zu ängstigen suchen, welche sie als Neu¬ ling oder als Eindringling in ihren Rei¬ hen betrachten. Und so schlau wissen sie ihre boshaften Attacken auszuführen, daß das arme Opfer gewöhnlich gar nicht zu einer Entgegnung kommen kann, son¬ dern zu dem Glauben verleitet wird, sein eigenes Wohlergehen sei die einzige Sorge der ganzen Gesellschaft. Unter Jennys Quälgeistern zeichnete sich besonders Fräulein Hasting aus, die mit hochaufgeschwollenen, von Bos¬ 47 heit und Eifersucht förmlich verzerrten Zügen sich in das Theater geschleppt hatte, um selbst Zeuge der schimpflichen Niederlage ihrer anmaßenden Vertre¬ terin zu sein. „Lassen Sie sich nicht bange machen, Liebe, bemerkte sie in süßlichem Tone offenbar auf einige früher gemachte lie¬ benswürdige Reden anspielend. „Jeder¬ mann reussiert nicht gleich zum ersten¬ mal und wenn das Auditorium zu zischen und zu pfeifen anfängt, so fahren Sie ruhig weiter, nehmen Sie keine Notiz davon.“ „Natürlich werden Sie sich anfangs schrecklich unbehaglich fühlen, läßt sich die vorsintflutliche Harmann ver¬ nehmen; „und das Haus wird all Ihre entimentalen Szenen sicher auszischen aber bleiben Sie standhaft und ver¬ suchen Sie ja keine Übereilung.“ „Ich möchte Sie doch darauf aufmerk¬ sam machen, Liebe, daß Sie nicht im¬ stande sein werden, den Souffleur zu verstehen,“ bemerkte eine andere Kollegin, „dazu gehört tüchtige Übung, also werden Sie am besten tun, selbst einen Blick in das Buch zu werfen.“ Jennys anscheinende Gelassenheit bei all diesen ergötzlichen Angriffen war wirklich erstaunlich anzusehen. „Es ist sehr gütig von Ihnen allen, olch freundliches Interesse an mir zu nehmen,“ antwortete sie ruhig; „ich werde versuchen, mir Ihre vortrefflichen Ratschläge zunutze zu machen.“ Ich traute meinen Augen und Ohren kaum. War dies meine sanfte, liebevolle selbstbewußte Jenny, diese ruhige, Dame, die so tapfer ihren Platz behaup¬ tete, wo manch stolzes, mutiges Herz sich eingeschüchtert gefühlt? „In jedem Fall ist sie ihnen vollstän¬ dig gewachsen,“ dachte ich mit großer Be¬ friedigung. „Wenn ihr nur die Worte nicht entfallen, so wird sie ihre Aufgabe sicher lösen.“ Jetzt war der Augenblick gekommen, wo ich auf der Bühne erscheinen mußte. Meinem Eintritt folgte wie gewöhnlich ein Sturm von Begeisterung. Ich ver¬

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