Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1921

86 „Kind, selbst ein so kluges Frauchen wie Du, kann einen Koffer nicht in fünf Minuten packen und Du weißt, mehr als fünf Minuten hatte ich dazu nicht übrig, und außerdem macht es ja nichts aus, ob ich ein paar Strümpfe oder einige Kragen vergessen habe, ich kann sie ja überall kaufen. Aber die Hauptsache habe ich mit eingepackt, Dein Bild, die Photographie im silbernen Rahmen, die auf dem Schreib¬ tische dem Bilde Deiner Schwester gegen¬ über steht. Ich werde es jeden Morgen und jeden Abend küssen. Ich „O, Heinz, sei ruhig, oder ich muß wieder weinen. Ich glaube, ich kann während dieser acht Tage nicht einmal auf Dein Zimmer gehen, es wird mir unmöglich sein.“ Dann eine letzte Umarmung, ein langer Kuß, und Heinz war fort. „Ah. Mit einem langen Seufzer der Zufriedenheit ließ sich Heinz nach acht Tagen in seinen Stuhl fallen und sah eine hübsche Frau glücklich an. „Es ist mir, als sei ich in das Paradies zurückgekehrt.“ Else lachte ihn strahlend an. „Und warst Du wirklich schrecklich unglücklich während der ganzen Zeit Deiner langen Reise? „Jede Sekunde,“ gab Heinz ernsthaft „und jetzt reiche mir, bitte, noch einmal zu die Pastete, sie ist Dir vorzüglich geraten. Else strahlte förmlich. „Selbstverständlich hattest Du tags¬ über sehr viel zu tun, aber was hast Du an den Abenden gemacht?“ Heinz schnitt sich ein neues Stück von der Pastete ab, das er mit der Miene eines Gourmands auf seinen Teller legte, dann antwortete er langsam, wie geistesabwesend: „Die Abende waren schön, sehr schön. Ich meine,“ setzte er dann schnell hinzu, „schön, denn ich konnte ungestört an Dich denken. Nur hatte ich immer so fürchter¬ liche Sehnsucht, Deine lieben Züge wieder zu sehen.“ „Doch, Du hattest ja mein Bild mit¬ genommen,“ warf Else ein. „Dein Bild, ja ich vergaß ganz, das zu erwähnen. Ich weiß nicht, wie ich diese acht Tage hätte überstehen können, wenn ich nicht das Bild gehabt hätte. Jeden Morgen, wenn ich aufstand und jeden Abend, wenn ich mich niederlegte, habe ich das Bild geküßt. Ging ich in die Stadt, agte ich dem Bilde adieu und des Abends habe ich oft stundenlang vor dem Bilde gesessen und dem Bilde erzählt, was ich den langen Tag über angefangen hatte Wie sehr ich mich nach meiner Else gesehnt hatte. Es war so, als hättest Du bei mir gesessen.“ Else schmiegte sich dicht an ihren Mann. „Erzähle mir ausführlich, was Du dem Bilde alles erzählt hast.“ „Wie ist es mit dem Pudding?“ fragte er. „O, Heinz, wie unaufmerksam bin ich. Selbstverständlich will ich nicht, daß Du mir auch nur ein Wort weiter erzählst, bevor Du nicht mit dem Essen fertig bist. Du bist sicherlich fürchterlich hungrig ge¬ wesen und jetzt sehr abgespannt.“ „Ja,“ sagte Heinz gähnend, ich bin sehr müde. Arbeit ist eben keine Erholung aber für Dich ist mir keine Arbeit zu schwer oder zu ermüdend.“ Als Heinz sich nach dem Dessert eine Zigarre anzündete, rückte Else ihren Stuhl wieder an seine Seite und schmiegte sich dicht an ihn. „Willst Du mir jetzt alles sagen, was Du dem Bilde erzähltest. Heinz machte sich umständlich an seiner Zigarre zu schaffen, die auf einmal nicht mehr ziehen wollte. — Endlich sagte er langsam und vorsichtig: „Rate einmal. Else wurde rot und versteckte ihren Kopf an seiner Schulter. „Vielleicht, sagte sie langsam und verlegen wie ein kleines Schulmädchen, „vielleicht küßtest Du das Bild und sagtest: O, mein liebes, süßes Weib, ich sterbe aus Sehnsucht nach Dir.“ „Richtig, sagte Heinz, „Du bist ein kluges Mädchen.“ „O,“ rief Else, in die Hände klatschend, „wie konnte ich das wohl raten? „Ich weiß nicht, versuche es doch weiter.“ „Dann küßtest Du das Bild wieder und sagtest, wenn ich Dich nicht bald, recht bald wiedersehe, werde ich wahnsinnig aus Heimweh nach meinem Schatz.

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