Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1918

162 Zur Sommerszeit war Stummerl schon beim ersten Hahnenschrei im Walde. Da kannte er Weg und Steg, jeden Baum, jeden Stein. Der „Rehhübel“ war ja sein Revier seit vielen Jahren. Wohl wagte er nicht, einen der Hochsitze zu er¬ klimmen, er konnte ja gesehen werden, aber am Fuße der Bäume, die den Stän¬ den als Stütze dienen, gab es Schö߬ linge und Buschwerk genug, um sich darin zu verstecken. Nur wartete er den Mor¬ gen ab, den herrlichen, taufrischen Mor¬ gen im Hochwalde. Den schneidend kalten Wind, den die Sonne mit ihrem ersten Schimmer auferweckt, fürchtete er nicht, oder er tat ihm wohl. Dann stieg der Nebel aus den Tälern herauf, wie ein schweres wallendes Riesentuch, teilte sich in hochgelegenen Waldesrändern in weiße Fetzen, leckte gierig an den mächtigen Tannenstämmen empor, bis unter ihm der klare Tag hervorbrach und nur mehr die Baumgipfel in verschwommenen Kon¬ turen in die schwebenden Dunstmassen ragten. Das war die Stunde für unser Stummerl, wo es mit klopfenden Her¬ zen und leuchtenden Augen um sich schaute, wahrhaft beglückt und selig in dieser großen, ewig schönen Natur. Zwei Häslein, welche vertraut aus dem Waldesdunkel auf die Blöße hop¬ pelten, als wüßten sie, daß sie Schon¬ zeit hätten, beachtete unser Jäger nicht. Aber jetzt ging ein Zittern durch seine Ge¬ stalt, wie er den Kopf leise, ganz leise zur Seite wendete. Fünf „Stück Wild“ standen heraußen, darunter „sein“ „Auf¬ habender“, den er nun einmal in's Herz geschlossen wie einen alten Bekannten. Er nahm sich wohl jeden Morgen vor, den „Sechser“ zu schießen, aber freilich, die Haselflinte war kein Werkzeug hiezu. Armes Stummerl! Du wirst „deinen Sechser eines Morgens nicht mehr sehen, sie werden ihn dir vor der Nase weg¬ schießen, und du wirst einen Kummer mehr haben. Da stand der kapitale Bock, auf den schon so mancher umsonst gewartet hatte, und unserm Jäger flogen alle Pulse, wie er nun den Stecken an die Backe hob und — das linke Auge zuge¬ kniffen — scharf auf das Blatt hält. Dann stieß er den Stecken wagrecht kräftig von sich in die Luft. Das — war der Schuß des Stummerls. In seinem lieben Wald aber war er eines Tages einem zweiten Menschenkind begegnet, gerade so arm und verlassen wie er. Eine Dirne war's, nicht gerade hübsch, da sah sie zu krankhaft blaß aus aber auch nicht häßlich, mit ehrlichen blauen Augen und einem ganzen Wald von blonden Haaren. Erst sah sie ihn furchtsam an und hielt ihn für einen Forstknecht, der ihr das bißchen Reisig und Strauchwerk, das sie im Walde gesammelt, abjagen wollte. Aber dazu sah das Stummerl doch zu gemütlich aus und trug ja auch die Li¬ vree der Armut, wie die Dirne selbst. Ihm aber hatten es die blauen Augen und das blasse, schmale Gesicht jählings angetan, und wenn er auch nicht sprechen konnte, so sagten seine Augen beredt ge¬ nug, was in seinem bisher so liebeleeren Herzen vorging. Und es währte nicht lange, so verstanden sie sich gar gut, er hörte ihre Worte und sie verstand seinen Blick, sein Mienenspiel, seine Gebärden. Sie war auch eine „Paria“ wie er, ausgestoßen von der Gemeinschaft der protzigen Menschen, einsam und allein. In frühester Kindheit, wo anderen Men¬ schenkindern die Sonne leuchtet, und sie die Liebe beglückt, war sie schon eine arme Waise, herumgestoßen und gejagt von einem Haus zum andern, geschmäht und geschlagen, ohne daß sie Jemanden etwas zu Leide getan, nur weil sie auf der Welt war, ohne Ernährer, arm und elend. So zog sie von Ort zu Ort, ar¬ beitete fleißig, wenn man ihr Arbeit gab, und darbte, wenn sie nichts zu verdienen vermochte. Das Geschick hatte sie in diese Ge¬ gend verschlagen, am Waldessaum jen¬ seits des Berges fand sie die längst verlassene Hütte eines Forstwächters und

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