Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1916

in die Rechte gegeben wurde. Wer ihn so im Dämmer sah, mit den schwar¬ zen Kohlenaugen, der roten, aus einer Mohrrübe gebildeten Nase und dem auf¬ gesperrten Maule, aus dem die lange, aus einem roten Tuchfetzen hergestellte Zunge heraushing, den konnte wirklich ein Gruseln ankommen. Die Kinder aber verbeugten sich in schelmischer Ehr¬ furcht vor ihm, und einer von ihnen, ein Quartaner mit bunter Mütze, de¬ klamierte feierlich: „Seht den Mann, o größe Not Wie er mit dem Stecken droht Gestern schon und heute noch Aber niemand fürcht't sich doch Ist doch gar ein armer Wicht! Tiebe Sonne, schein' nur nicht, Sonst wird er wie Butter weich Und zerfließt zu Wasser gleich!“ „Ach, wie schade,“ meinte mitfühlend da unser Flöckchen, und es wurde ihm dabei vor Mitleid ganz warm ums Herz, und ein Tränlein stahl sich ihm in die Aeuglein. „Halt, nur nicht so sentimental werden,“ rief ihm da der Kamerad zu, der war schon erwachsen und abgehärtet. „Ein bißchen Wärme und wir alle sind verloren! Und —— Du kleines, niedliches Flöckchen zu aller¬ erst.“ Und es raffte sich beherzt zu¬ sammen und gab sich ein recht frosti¬ ges Aussehen ... Und wirbelte mit den Kameraden in neckischem Tanze um die Wette. Rentner Klepperbein war eben auf¬ gestanden. Sein erster, schlürfender Gang war zum Fenster. Stumm beob¬ achtete er eine Zeitlang das lustige Spiel der Flocken. Dann griff er hastig mit einem lauten „Au!“ an sein rechtes Bein und sank erschöpft auf den am Fenster stehenden weich gepolsterten Lehnstuhl nieder. Zugleich erschien in der Tür eine holde Mädchengestalt: „Was 77 gibt's, Onkelchen? vermaledeite „Das Zipperlein!“ ächzte der Alte laut. „Ist auch kein Wunder, bei solchem Hundewetter! Au! Au!“ Und das Mädchen brachte schnell einen ganzen Berg dicker wollener Tücher herbei und umhüllte damit Onkels 33 schmerzende Beine, daß sie wie gepol¬ stert aussahen. „Nun wird's schon besser werden, Onkelchen,“ meinte sie dann und strich besänftigend über die dicht verhüllten Beine „Wollen's hoffen,“ nickte ihr der Alte freundlich zu. „Hat mir schon lange in den Gliedern gelegen, aber gleich Schneeflocken, das ist zu arg, das ist wahrhaftig zu arg!“ Und hastig griff er nach dem Bein, wie um den etwa aufkommenden Schmerz gleich im Ent¬ stehen zu erdrosseln. Draußen aber führten die Flocken schadenfroh ihren Tanz weiter, und eine es war die dicke, runde — meinte sogar: „Es muß auch solche Käuze ge¬ ben! Sogar wir Flocken können's nicht allen recht machen ...“ Und unser klei¬ nes Flöckchen war um eine wichtige Lehre reicher ... Es schneit, es schneit, es schneit! Der Winter ist nicht weit. Es friert, es friert, es friert —“ Weiter kam er nicht, der hagere, bleiche junge Mann, der droben in sei¬ nem Dachkämmerchen, an seinem Feder¬ halter kauend, sich abmühte, einige Verse zu schmieden und zu Papier zu bringen. Ein Literat war es, und bei der großen Konkurrenz auch in diesem Fache galt es, möglichst den Kollegen zuvorzukommen. Ein „Wintergedicht“ sollte es werden, „Flockentanz“ über¬ schrieben, und schon sah er sich im traulich durchwärmten Stübchen des ge¬ strengen Herrn Redakteurs, der sein Ge¬ dicht mit Dank „akzeptierte“ und ihm als Anerkennung ein paar Goldfüchse in die magere Hand drückte. O, nun war wenigstens die drückendste Not be¬ hoben, die Miete konnte bezahlt und das Kämmerlein geheizt werden! Und vollends, wenn das Gedicht im „An¬ zeiger“ gedruckt stand! Die Ehre! Um den berühmten Dichter würden sich alle Schriftleiter und Verleger reißen, er war ein „gemachter Mann“ und konnte end¬ lich seines Lebens Traum erfüllt sehen

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