Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1914

66 beim alten bleiben und somit den unter¬ legenen Balkanverbündeten kein Haar ge¬ krümmt werden — als aber die Türkei unterlag, da ward der Besitzstand, wie er ich nach den Siegen der Verbündeten er¬ gab, maßgebend. Und weiter, als die in dem berühmten Londoner Frieden vorder¬ hand festgestellten Grenzen von den Bul¬ garen nicht respektiert, respektive die von diesen an die Türkei wieder abzugebenden Landstriche nicht abgegeben wurden, da rührte sich das europäische Konzert nicht, als aber nach dem späteren Debacle Bul¬ gariens die Türken in schneidigem Vor¬ gehen unter der Führung ihres National¬ helden Enver=Bei von Adrianopel, das nach dem Londoner Frieden Bulgarien zu¬ fallen sollte, wieder Besitz ergriffen, da fand dieses Konzert sofort seine Sprache wieder und es entschied, daß die Türkei Adria¬ nopel wieder räumen müsse — was diese vorderhand freilich nicht tat. Und es war dies nur wieder ein neuer Beweis von dem infolge der schwankenden und zögernden Politik dieses Konzerts tief gesunkenen Ansehen desselben. Konnte es doch selbst das kleine Montenegro trotz internationaler Flottendemonstration und Blockade nicht bewegen, das Bombardement von Skutari einzustellen und die dann in seine Hände gelangte Stadt wieder zu räumen — erst die energische Erklärung Österreich=Un¬ garns, daß es, wenn das Konzert der Gro߬ mächte nichts erreiche, vereint mit Italien die Räumung Skutaris selbst erzwingen werde, hatte den gewünschten Erfolg. Und als dann der gegen die Türkei und von einen Initiatoren wohl auch gegen Öster¬ reich=Ungarn gemünzte Balkanbund wieder ich in einen Knäuel untereinander hadern¬ der Staaten auflöste, vermochten alle De¬ marchen, Depeschen, Noten, Ermahnungen der Großmächte nicht Frieden zu schaffen und erst Rumäniens Einschreiten wird wahrscheinlich das erreichen, was alle Gro߬ mächte zusammen nicht durchsetzen konnten. Und die Londoner Botschafterkonferenz? Die tagte und tagt noch immer und hat —nach mehr als sechsmonatiger Tätigkeit ihre Aufgabe noch immer nicht vollendet: Wohl hat sie die Nord= und Nordostgrenze für das von dem Dreibund verlangte und gegen den Wunsch des einen Adriahafen verlangenden Serbiens durchgesetzte unab¬ hängige Albanien samt Skutari festgestellt; mit der Feststellung der Südgrenze und des Statuts für das unabhängige Albanien ist ie aber bis zum Schluß unserer Berichts¬ periode noch nicht fertig geworden. Und die Londoner Friedenskonferenz? Einmal gesprengt, konnte sie infolge der Hinterhältigkeit, Ränke, Verzögerungs¬ manöver der Parteien auch dann, als sie zum zweitenmal zusammentrat, nicht vor¬ wärts kommen und die Balkanstaaten, außer der Türkei und Bulgarien, die rascher zu einem Entschluß gelangten, konnten erst durch ein sehr energisches Wort Englands, respektive seines Staatssekretärs Sir Ed¬ ward Grey, endlich zur Fertigung des Frie¬ densprotokolls bewogen werden. Wie die von der Friedenskonferenz bestimmten Grenzen der einzelnen Balkanstaaten von diesen dann respektiert wurden, haben wir bereits gesagt. Und Rußland? Es war wohl nebst Frankreich der Inspirator für die Grün¬ dung des Balkanbundes, und als sein Dol¬ netsch fungierte Pasic, der serbische Staatsmann. Dem Panslawismus sollte am Balkan eine uneinnehmbare neue Trutz¬ burg erstehen, die mit ihrer Million Bajo¬ nette die Kräfte der Tripelentente oder eigentlich des Zweibundes Frankreich¬ Rußland in einem eventuellen Kampfe ge¬ gen den Dreibund stärken sollte. Aber Ru߬ lands Balkankinder folgten wohl im An¬ fang der ganzen Affäre ihrem Väterchen an der Newa, aber bald überkam sie das Unab¬ hängigkeitsgefühl, und ebensowenig wie Rußland Bulgarien bewegen konnte, die Wünsche Serbiens nach Anderung des zwischen ihnen bestehenden Vertrages be¬ züglich der Grenzen des ihnen eventuell zu¬ fallenden Gebietes zu erfüllen, ebensowenig konnte es dann, als die Balkanbündler an¬ fingen, sich in die Haare zu geraten, sie bewegen, das von ihnen dem Kaiser aller Reußen angetragene und von ihm auch an¬ genommene Schiedsrichteramt zu honorieren und seinem Rufe nach einer Auseinander¬ setzung in Petersburg zu folgen — sie

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