Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1914

56 „Die haben Sie hier in der wün¬ chenswertesten Weise, nur die Züge stören etwas, die hinter dem Hause die Anhöhe erklimmen! „Das macht gewiß nichts, die habe ich nicht gemeint!“ erwiderte er, in¬ dem er sich verabschiedete und ver¬ sprach, seine Sachen noch am gleichen Tage zu schicken. Die Wohnung war wirklich aus¬ nehmend schön. Das Wohnzimmer vorn heraus ge¬ währte eine prächtige Aussicht auf waldgekrönte Berge hin, die oft von chwebendem Hauch umzogen waren. Dazu stiegen die Düfte der .vielen Rosen zum Fenster empor und erfüll¬ ten das ganze, oft vom Sonnenlicht voll durchflutete Gemach. Aber war er vorn schon erfreut durch die Schönheit des Gebotenen, so steigerte sich beim Schauen hinten heraus das Entzücken des Naturfreun¬ des, der er immer gewesen, fast ins Maßlose. Das war ja das Schönste, was er bisher gesehen hatte! Die Gärten erstreckten sich etwa fünfzig Meter ins Land hinein und wurden dann von Hecken abgeschlos¬ sen. Dahinter lagen Wiesen und Fel¬ der auf welligem Gelände bis zu der etwa fünfzehnhundert Meter entfern¬ ten Stadt mit ihrem breiten Weich¬ bild, das viele Türme überragten. Dahinter schloß ein nicht zu hoher Berg das geradezu ideal schöne Land¬ chaftsbild wirkungsvoll ab. Hier hinten saß er am liebsten, auf der kleinen, hinter dem Schlafzimmer liegenden Verande und ließ den Blick über das imponierende Städtebild chweifen, das immer schön war, ob nun der Rauch sich in breiter Schicht darüber lagerte, oder bei Wind, der diesen hinwegfegte, die einzelnen Ge¬ bäude deutlich hervortraten. Die ihn wirklich bezaubernde Schönheit fürs Auge wurde fürs Gehör noch gehoben durch das herrliche Geläute, welches oft zu ihm herüberdrang. Hier beruhigte er sich tatsächlich über die Untreue des früher geliebten Mädchens, und es wunderte ihn sehr, wie leicht ihm das gelang. Vierzehn Tage wohnte er schon da und hatte noch kein Instrument er¬ tönen gehört wie das Klimpern un¬ geübter Kinderhände auf einem aller¬ dings prachtvollen Klavier. Da quol¬ len aber eines Abends ganz andere „ Cone aus den geöffneten Fenstern der zweiten Nachbarvilla hervor und da etzte auch eine glockenhelle Frauen¬ stimme ein mit dem Weserlied. Das Weserlied! Wie oft hatte er es ge¬ sungen! Wie elektrisiert sprang er empor und lauschte den herrlichen Tönen. Wer mochte das sein? Er hatte noch niemand da gesehen, dessen Aussehen im entferntesten zu dieser Stimme ge¬ paßt hätte. Aber er konnte ja seine Wirtin nach der Nachbarschaft fragen, was er ja auch wegen etwaiger Besuchsver¬ pflichtung nicht unterlassen durfte. So erfuhr er denn, daß da seit eini¬ gen Wochen ein Professor Meinhardt mit Frau und zwei Kindern wohne, der vor einigen Tagen Besuch von einer Schwagerin, einer jungen Dame von großer Schönheit, erhalten habe. „Meinhardt, Meinhardt!“ mur¬ melte er, als seine freundliche Wirtin gegangen, „sollte das wohl gar unser Senior aus Heidelbergs sonnigen Tagen sein? Da bin ich aber neu¬ gierig!“ Derselbe Abend brachte schon die Lösung, denn beim langsamen Dahin¬ schlendern überholte ihn ein hoch¬ gewachsener Herr, der seine gewiß nicht gering ausgefallene Größe noch um ein gutes Stück überragte. Ein Hinschauen, ein kurzes Stutzen, und „in den Armen lagen sich beide". Aber sie weinten nicht, denn dazu war der junge Professor viel zu frohsinnig an¬ gelegt, aber sie begannen sofort, alte Erinnerungen hervorzuholen. Der Professor wollte „seinen jüngeren

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