Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1913

40 fühlen mag? „Lieb' und Leid und Lust wie ein Menschenherz?“ Isabella erwog den Gedanken in sich wie eine bedeutungsvolle und schwerwiegende Frage. Aber ihr blieb kein langer Zeitraum dazu — den Weg daher kamen Männerschritte und als Gebüsch und Strauchwerk die Nahenden nicht mehr verbarg, sah Isabella, daß es die zwei jungen Männer waren, mit denen sie gestern im Hotel zusammen getroffen waren. Vikis Augen hatten sich bei dem Geräusch der Schritte langsam ge¬ öffnet, als sie aber die Nahenden er¬ sah, fuhr sie jäh empor. In heftigem Schreck pochte ihr Herzchen auf das war er — er! Voll süßer Ver¬ wirrung schaute sie ihm entgegen und als er seinen Hut zum Gruß lüftete, dankte sie tief errötend mit leichtem Nicken. Fröhlichkeit blitzte in seinen Augen auf. Er blieb stehen. „Guten Morgen, schönstes Fräulein — Cousinchen!“ agte er nun lächelnd. Sie flog förmlich empor von ihrem Sitz. „Cousinchen —?“ wiederholte sie staunend, ungläubig. „Ich wäre Ihre Cousine? O, Sie treiben Spaß mit mir, mein Herr! „Wirklich nicht. Da schauen Sie her!“ entgegnete er, indem er zugleich aus seiner Brusttasche ein Notizbuch hervorzog, es aufschlug und ihr darin eine Photographie vor die Augen hielt. „Das Bild hat mir der charmante Onkel Willibald zugeschickt und allein der Anblick desselben hat mich zu einem Besuch bewogen. Sonst würde alles Drängen des Onkels, daß ich mir mein reizendes Cousinchen einmal ansehen sollte, nichts genutzt haben Das aber half sofort.“ „Sie wären — Sie sind Vetter 1 Lothar= sagte Viki staunend und hielt ihm nun ihre Hand hin, offen hinzufügend: „Das freut mich sehr. „Wirklich? Ohne Schmeichelei? fragte er lachend, jedoch sah Viki, wie in seiner Miene schlecht verhehlte Freude aufzuckte. „Aber nun gestatten Sie mir, Ihnen meinen Freund Oskar Stuben, künftiger Rechtsanwalt, vor zustellen. Viki reichte dem Herrn die Hand und wandte sich dann zu Isabella. „Nun kennst du ja die beiden Herren gleichfalls und mir bleibt nur übrig, auch deinen Namen zu nennen meine Freundin Isabella Loring. Von Lothar Puchner erhielt Isa¬ bella nur einen flüchtigen Blick und eine kurze Verneigung, die grauen Augen Oskar Stubens aber wandten sich nicht von ihrem Gesichte, grost und bewundernd schauten dieselben sie an. Viki befreundete sich rasch mit ihrem Vetter, sie lud ihn zum Niedersetzen ein und er ließ sich ohne weitere Um¬ stände knapp neben ihr auf die Bank nieder. Sein Freund aber lehnte sich an den Stamm eines daneben be¬ findlichen Baumes. „Ich dachte, daß ich Sie daheim finden würde, Viktoria!“ sagte der hübsche Vetter. „Haben Sie hierher bloß eine Vergnügungsreise gemacht oder gedenken Sie noch irgendwo anders hinzufahren? „Wir begeben uns nach Brüssel zur Schönheitskonkurrenz, erwiederte Viki. „Um daran teilzunehmen? Wirklich? fragte Lothar erstannt. „Ja, wozu denn sonst?“ Viki ent¬ gegnete es lachend. „Etwa, um uns lediglich die Schönheiten dort anzu¬ sehen? Nein, dazu sind wir selbst zu eitel und hoffen, preisgekrönt zu werden. „Und was haben Sie davon, wenn Sie wirklich einen Preis erwerben? mischte sich jetzt Oskar Stuben ein. „Lediglich das Gefühl befriedigter Eitelkeit. Isabella warf pikiert ein; „O, ich bitte Sie, es ist doch etwas Erhe¬ bendes, seine Schönheit von streng prüfenden Augen anerkannt zu sehen.“ „Etwas Erhebendes? Nun, für ein oberflächliches, seichtes Frauengemüt

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