Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1913

Als die drei Damen die Treppe im Hotel „zur goldenen Kanone“ em¬ vorstiegen, um ihre Zimmer aufzu¬ uchen, kamen zwei junge Männer plaudernd die Stufen herab. Viki, die neben Isabella empor¬ schritt, fuhr zusammen und packte plötzlich Isabella am Arm. Ihre Augen schauten mit einem seltsam rohen Blick auf einen der beiden Herren und eine tiefe Röte färbte ihr liebliches Antlitz. Dann erwiderte sie leise den Gruß jenes Herrn, der sie einen Moment lang betroffen ange¬ tarrt hatte Isabella schaute des plötzlichen An¬ fassens ihrer Freundin halber ver¬ wundert auf. Ihr Blick traf in ein ernstes, graues Augenpaar, das aus einem braunlichen, edel geschnittenen Mannesantlitz ihr entgegenschaute. Sie zuckte zusammen, als hätte sie ein tiefer Schreck erfaßt — es war ein ihr unerklärliches, neues Gefühl, das plötzlich in ihr erwachte. Die beiden Herren waren vorüber und gleich darauf flüsterte Viki ihr zu: „Mein Gläubiger war es, mein Gläubiger!“ Isabellas Kopf fuhr herum. „Wer? Wer?“ fragte sie in atemloser Spannung. „Der eine der beiden Herren, flüsterte Viki glücklich. „Welcher? Der mit den grauen Augen? „Nein, mein Gläubiger hat braune, lustige. Viki bemerkte in ihrer Glückseligkeit gar nicht die Aufregung der Freundin. Sie plauderte leise weiter: „Siehst du, meine Ahnung, die betrügt mich nie! Ich habe ihn gesehen und der Zufall wird weiterhelfen. Ach, nun freue ich mich so, daß ich die Reise durchsetzte. Nun habe ich gar keine Neugierde mehr auf den Lothar.“ Isabella erwiderte nichts hierauf. Sie schaute noch immer in zwei ernste, graue Augen — und die wichen selbst nicht in ihren Träumen in dieser Nacht. 39 Andern Tages nach dem Frühstück unternahmen die zwei Mädchen einen Isabellas Mutter ruhte noch — Spaziergang nach dem Volksgarten. Langsam schritten sie auf den schön¬ gehaltenen, weißglänzenden Wegen dahin. Hier und da tropfte von den Bäumen und sich über die Wege neigenden Gebüschen der Tau herab und das kühle Naß traf gar oftmals eines der beiden jungen Mädchen ins Gesicht. Nur wenige Besucher waren an diesem Frühmorgen im Volksgarten anwesend. An einer der einsamsten Stellen machte Isabella halt. „Hier laß uns ausruhen, Viki,“ sagte sie und ließ sich auf einer Bank nieder. „Ja, hier kann man sich doch un¬ gestört ein Weilchen seinen Gedanken überlassen,“ meinte Viki, setzte sich dicht neben die Freundin und schlang einen Arm um sie, während sich ihr Köpfchen zärtlich an deren Schulter schmiegte. In dem Antlitz des großen Mädchens erschien ein ironisches Lächeln. „Und die drehen sich wohl alle ohne Aus¬ nahme um den einen Gegenstand, gelt?“ fragte sie. Viki gab keine Antwort, aber ihr Gesichtchen überzog eine jähe Glut, dann schlossen sich ihre Augen halb zum Träumen. Isabellas Blick aber hing sinnend an den Baumzweigen hoch über ihr. Dort oben saß ein Vöglein und schaukelte sich leise auf dem schwanken Zweige; plötzlich aber drehte es das feine Köpfchen seitwärts ein leises Zirpen war von dorther erklungen — ein Kamerad kam von da drüben herangehüpft. Und da fing das sich schaukelnde Vöglein auf einmal hell zu schmettern an, als wolle es mit einem Freudengesang den Kameraden begrüßen, dann aber, als sie zu zweien auf dem Zweige saßen, schwieg es still und ein Schnäbeln begann, als wäre es ein Wiedersehen nach langer Trennung. Was wohl so ein Vogelherzchen

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