Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1913

28 „Berthold!“ rief der alte Bergwirt zum erstenmal wieder den Totenhofer bei seinem Vornamen nennend, und streckte ihm beide Hände entgegen. „Berthold — da haben wir viel gut zu machen! Und die Trotzköpfe alle beugten sich vor der besseren Erkenntns und olgten dem Beispiele der Versöhnung. „Und du?“ sagte der Moosgrundner zu Kaspar. „Und der hat redlich 'büßt und ge¬ fühnt und in freiwilliger Gefangen¬ chaft abgesessen!“ entgegnete der alte reise Bergwirt. „Grüaß di Gott wieder in der G'moa, Kaspar, i schüttel dir die Hand und erkenn' di als recht¬ chaffenen Nachbarn an!“ Durch den mächtigen Körper des Ausgestoßenen, des lebendig Begrabenen ging ein Beben, als ihn dieser kräftige Händedruck wieder zum Leben aufrief. Aber es war vergebens. Er schüttelte den Kopf. „Du irrst di, Bergwirt!“ antwortete er. „Mit meinem ewigen Richter hab' mi abg'funden und blick' seinem Urteil ohne Zittern entgegen — aber dem weltlichen hab i mi bis iatzt entzogen er will a sei Recht — nehmt's mi fest, i bin euer Gefangener!“ Es waren trübe Tage, die im Moos¬ grund und auf dem Totenhof ein¬ kehrten. Hier wie dort rang ein Menschenleben mit der schweren Krank¬ heit; das Nervenfieber war bei Agathe, das Wundfieber bei Toni ausgebrochen, und Tag und Nacht mußten treube¬ orgte Augen an den Leidensstätten der beiden wachen, um nichts an Pflege zu versäumen, was etwa zur Rettung beitragen konnte. Auch noch ein anderes bedrückte jene im Totenhof. Der wilde Kaspar war, weil sich der Bürgermeister nicht dazu hatte verstehen wollen, ihn zu Gericht führen zu lassen, selber in die Stadt hineingegangen, um sich zu stellen, und nicht mehr zurückgekehrt. Er war also offenbar dort in Unter¬ uchungshaft genommen worden, und eine schwere Strafe harrte seiner, so viel er auch schon abgebüßt hatte. Nur eines war anders geworden auf dem Totenhof — er war nicht mehr gemieden und gefürchtet von denen im Dorf unten, im Gegenteil, Neugierde, oft auch wirkliche Teilnahme führte die von drunten häufig empor, wo sie sich in dem wohlgeordneten Hauswesen staunend umsahen, um von der alten Traudl ein Wort über Agathens Befinden zu hören oder aber gar einen Blick in die Krankenstube werfen zu können. Den Totenhofer, den Bergwirt und den Bürgermeister schloß bald enge, nachbarliche Freundschaft zusammen. Die beiden von unten erkannten ihr Unrecht wohl und suchten an dem Ausgestoßenen gut zu machen, was ie gefehlt, und er, der so lange des Umganges mit biederen Männern, mit denen er sich über dieses und jenes aussprechen konnte, entbehrt hatte, fand nun in ihrer Achtung und Ge¬ sellschaft wenigstens einigen Trost in einem herben Schicksal. Einen Bewohner aber hatte der Toten hof dauernd mehr gewonnen— das war Gregori. In einer stillen Abendstunde beim Marterl war ohne Zeugen, nur vom blauen Sternenhimmel und den duftenden Büschen belauscht, eine rührende Wiedersehensszene zwischen Mutter und Kind vor sich gegangen: Die alte Traudl vermochte nun, da sich alles geklärt hatte, nicht länger an sich zu halten und gab sich dem armen Krüppel als das zu erkennen, was sie war: seine Mutter, die einstens o schöne und viel umworbene Sen¬ nerin. Mit hellem Jauchzen und bisher ungekanntem Glücksgefühle schloß sie der gute verkümmerte Bursche in die Arme, und all sein Leid, all seine Verlassenheit und Einsamkeit war mit einem Schlage von ihm geschwunden. Sie leisteten sich einen feierlichen

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