Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1913

„Wie Ihr es zu nennen beliebt, mein Herr Graf vom Traungau,“ er¬ widerte der Ennstaler stolz, „also soll es ein Gottesurteil sein!“ „Angenommen,“ sagte Graf Aribo kurz und sich zu seinem stumm und gleichgiltig dastehenden Schildträger wen¬ dend, fügte er hastig und barsch hinzu: „Du hast gehört, was du zu tun hast, Zventibold — morgen um die Zeit finde dich hier ein zu Frag' und Ant¬ wort, bis dahin sollst du in deiner Freiheit nicht behindert werden!“ Die Versammelten gingen ihrer Wege, auch der Zventibold ging seinen Pfad. An Flucht dachte er nicht, er war gar oft ein Schelm, aber Wort¬ bruch konnte ihm nicht nachgewiesen werden und wohin hätte er fliehen sollen? Beim letzten Gehöft in Styra begann auch schon die Wildnis des Ur¬ waldes, darin allein sich zu befinden, war sicherer Tod durch Hunger oder wilde Tiere. So ging der Zventibold zum Holzkirchlein hinaus, betete dort ein Stoßgebetlein um eine selige Sterbe¬ stund, denn auf eine Rettung hoffte er nicht mehr und dann schlenderte er am Kirchhof herum und machte Stu¬ dien über die Vergänglichkeit alles Ir¬ dischen. Am anderen Tage stand er wieder vor seinen Richtern, ehrerbietig, aber in Niedergeschlagenheit, sondern nicht voll Hoffnung. „Dein Rätsel, wie lautet es?“ fragte der Vorsitzende kurz. Zventibold holte tief Atem — es galt sein Leben, er sah das an des Ennstaler Grafen drohenden Blicken und aus dessen Mienen, die kein Erbarmen erraten ließen. „Ein Rätsel für mein Leben sagtet Ihr gestern, edle Herren,“ er¬ widerte Zventibold ruhig in Ton und Geberde, wohlan, so höret, es lautet: „Fünf Lebendige in einem Toten das sechste macht das fünfte frei IXVII ratet, Ihr edlen Herren, was dieses sei!“ Lautlose Stille herrschte in der Runde, fast wagte keiner zu atmen, nur die Blicke aller enthielten die stumme Frage: „Was heißt das? Wer weiß die Lösung?“ Keiner sprach, denn keiner wußte da die Antwort zu geben — sie konn¬ ten das Rätsel nicht lösen. „Wenn es keine Schelmerei ist, so so dir auch jetzt noch zuzutrauen ist, löse uns dein Rätsel,“ sagte endlich Graf Aribo, „aber merk, ein Geding gibt es hier nicht!“ „Nein,“ erwiderte Zventibold stolz und ein freudiges Lächeln huschte über seine derben Züge, „folget mir ein kleines Stück Weges, edle Herren, Ihr sollt das Rätsel sehen und seine Lö¬ sung hören!“ Kein Widerspruch regte sich, auch der Graf aus dem Ennstale folgte schweigend dem Zventibold die wenigen Schritte in den „Friedhof“, wo in einer Ecke, aufgeschichtet, Totenköpfe lagen, überdacht von alten Brettern, die auf mannshohe Pfosten gelegt waren. „Seht hin, edle Herren,“ sagte Zventibold und groß war aller Erstau¬ nen über das liebliche Bild, das sie da sahen an dem Orte des Verwesens und Vergehens. In einem hohlen To¬ tenschädel saß bei vier fast noch nackten Jungen ein Stieglitzweibchen, sorgsam die Kleinen richtend, deckend und schnä¬ belnd. „Fünf Lebendige in einem Toten,“ sagte Zventibold auf das herzige Tierbild weisend. In diesem Augenblicke kam das Stieglitzmännchen dahergeflogen, ätzte eines der schnabelaufsperrenden Jungen, das Weibchen flog weg und das Männ¬ chen setzte sich an ihre Stelle, die junge Brut zärtlichst liebkosend. „Das Sechste macht das fünfte frei,“ tönte da die Stimme Zventibolds und seine Hand wies wie¬ der auf den Totenkopf und dessen Be¬ 5*

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