Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1912

36 doch Gabrielens Mutter meine Jugend¬ freundin!“ lautete die Entgegnung der =Baronin Steinau. „Möge es Ihnen gelingen, ich bin be¬ reit, der Zukunft meines Kindes das Opfer der Trennung zu bringen. Nun bitte zu Tische, Baronin, und wollen Sie als unser Gast fürlieb nehmen, bis Sie Ihre Aufgabe gelöst haben.“ Der Graf öffnete die Tür und über¬ nahm die Führung. Bei Tische wurde wenig gesprochen, der Hausherr stellte einen jungen, ernsten Mann mit hoher Denkerstirn als seinen Sohn Clemens vor. Der junge Graf hatte eine große, aber sehr schmale, etwas gebeugte Ge¬ stalt, sein Wesen war still, fast scheu. Er war ein sehr schwächliches Kind ge¬ wesen und noch in seinen Jünglings¬ ahren sehr oft krank und leidend. In¬ folge seiner körperlichen Hinfälligkeit war er an Greifenstein gefesselt, er hatte an keiner Hochschule studieren, keinen Beruf ergreifen können, dennoch besaß er hervorragende Kenntnisse auf allen Gebieten des Wissens, die er durch tüchtige Hofmeister, vor allem aber durch unermüdliches Selbststudium er¬ worben hatte. In den letzten Jahren hatte sich seine Gesundheit gekräftigt, da war es seinem festen Willen und sei¬ ner Ausdauer gelungen, auch körper¬ liche Fertigkeiten zu erringen, ein tüch¬ tiger Reiter, ein guter Schütze zu wer¬ den. Der alte Kunz servierte das einfache Mahl. Gabriele saß der Baronin ge¬ genüber. Trotz und Unwillen zuckten über das Gesicht des Kindes, man über¬ ließ die Zähmung der Widerspenstigen gänzlich dem Gast und als die Baronin nach Tisch das Mädchen ansprach, er¬ griff es neuerdings die Flucht. Es war am Abend des dritten Ta¬ ges, den Baronin Steinau auf Greifen¬ stein zubrachte. Sie erging sich im Park und sann auf ein Mittel, Ga¬ brielens Vertrauen zu gewinnen. Da vernahm sie die Stimme des Grafen Clemens und die der Komtesse. „Was soll aus uns werden, wenn unser Sonnenstrahl uns verläßt, was soll ich beginnen, wenn du gehst? fragte Graf Clemens. Gabriele schüttelte die Locken zurück und erwiderte: „Ich bleibe auf Grei¬ fenstein, ich hasse die Baronin und die ganze Residenz. Wer soll dich auf die Jagd begleiten und mit dir auf flüchti¬ gem Pony über die Heide reiten, wenn nicht deine kleine Gabriele? Und wer soll dich aus all den kleinen und großen Gefahren retten, in die du dich tollkühn zu stürzen liebst, wenn nicht ich?“ entgegnete der Bruder. „Oh, was das betrifft, da benötige ich niemanden, ich kann schießen, reiten und schwimmen,“ sprach selbstbewußt Gabriele, „ich werde die Baronin zu entfernen wissen, denn ich verlasse den Vater und dich nicht“, fuhr sie fort, und die goldenen Strahlen der Abendsonne warfen wunderbare Reflexe über das trotzige Kindergesicht. Clemens war in den Anblick der Schwester versunken, endlich sagte er: „Du bist wild und dein Sinn ist kraus wie dein Haar, aber eine Fee bist du doch.“ „Ja, die bin ich,“ erwiderte Ga¬ briele mit ernstem Neigen des Hauptes, „und eine goldene Wünschelrute werde ich finden und mit der Wünschelrute werde ich das zusammengestürzte Schloß wieder aufbauen. Nach diesen Worten wurde es still, die Geschwister gingen ins Schloß zu¬ rück und auch die Baronin erreichte auf geräuschlosen Sohlen ihr Gemach. Nachts träumte sie lebhaft und erwachte am Morgen beklommenen Mutes. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als ich Frau von Steinau vom Lager er¬ hob. Sie berührte kaum das Frühstück, das man im Nebengemach serviert hatte, es drängte sie ins Freie. Planlos streifte sie durch den wilden Park und beinahe erfaßte sie Schrecken, als sie plötzlich Gabriele sich gegenüber auf einem schwankenden Steg erblickte, der über ein sprudelndes Wasser führte. „Kommen Sie doch“, rief der Wild¬

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