Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1912

32 die kräftige Gegnerin wie das schlüpf¬ rige Gras des Ufers daran verhindert. „Mag das alte Weib betteln gehen bei denen, die mich wie einen Hund fortgejagt haben — — dann ist bete es mit dir vorbei! „Laß mich los, bei allen Heiligen!“ chrie die Verlorene und stieß mit ver¬ zweifelter Anstrengung nach der Brust der Zigeunerin, daß diese wankte und ihr Opfer losließ, aber zugleich erhob sie wutentbrannt mit der Rechten den in ihre Schürze gewickelten Stein und schlug mit Leibeskräften nach dem Kopfe der Knienden. Auf den Tod getroffen, sank die Un¬ glückliche mit einem erstickten Seufzer in das fließende Wasser und ein dunkler Blutflecken trübte die reine Flut und das Licht des sich ruhig darin spiegelnden Mondes. Die Zigeunerin ließ jedoch nicht nach, sie versetzte ihrem Opfer wohl noch zwanzig Schläge und hörte erst in ihrem Mordhandwerk auf, als auch das leifeste Zucken Ma¬ riens Körper vorüber war. Dann wusch sie ihre blutigen Hände und Kleider im Bache, packte den Kranz in den Korb der Ermordeten, stieg den Felssteig empor und verschwand im Gebüsch. Zehn Minuten waren noch nicht ver¬ flossen, als die Post auf der Höhe er¬ schien. Der Postillon war abgestiegen, um den Pferden die Last zu erleich¬ tern und wollte eben wieder aufsitzen, als ihm ein im Mondschein schimmern¬ der Gegenstand an der bekannten Stelle auffiel. Er bat die Reisenden, zu warten und stieg hinab. Sein Ent¬ S. setzensruf lockte auch diese herbei. Sie fanden die entstellte, aber noch warme Leiche. Es blieb nichts übrig, als schnell den Badeort zu erreichen und die Gerichte zu berufen. Kaum saßen aber die Reisenden in dem Wagen, kaum war der Postillon auf seinen Sitz gestiegen, als auch eine dunkle Gestalt aus dem Dickicht schlüpfte, das Gepäck erkletterte und sich schweigend darauf niederkauerte. Die Zigeunerin wollte der Ermordeten Wort halten. Der Postwagen überholte die Fußgängerin¬ nen, die einen anderen Weg durch den Grund eingeschlagen hatten, und kam mit Tagesanbruch an den Ort sei¬ ner Bestimmung. Als zwei Stunden später die Türe der Apotheke geöffnet wurde, hing am Drücker ein zerrissener Myrtenkranz, dessen Blüten und Blät¬ ter mit Blut befleckt waren. Eine namenlose Aufregung bemächtigte sich des Ortes, die Hochzeit ward aufge¬ schoben und die Boten des Gerichtes durchsuchten alle Pfade des Gebirges und Waldes. Man hat die „schwarze Tony“ oder die Zigennerin, welche im Volksmund so geheißen, nie wieder¬ gesehen. Ignaz verließ seinen Dienst und wurde Soldat. Die alte Mut¬ ter von Marie Holzinger ver¬ fiel nach langem Jammern um ihre unglückliche und ermordete Tochter in stillen Irrsinn, und noch zehn Jahre nach dem unglücklichen Ereignis sah man sie gedankenlos an einem klei¬ nen schwarzen Kreuze sitzen, das die Stelle bezeichnete, wo man ihr schönes Kind: „Das Blumenmädchen von Eger“, begraben hatte.

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