Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1912

vorsichtig in einen sanften Wirbel, den das herabflutende Wasser bildete. Noch sah sie gedankenvoll vor sich hin, als ein verdorrtes Tannenbäumchen knackte und aus dem dichten Erlengebüsch eine große weibliche Gestalt trat. Es war die Zigeunerin; sie trug in der rechten Hand, eingewickelt in ihre leinene Schürze, eine runde Masse und schritt über die Steine des Baches, sich an den Zweigen mit der Linken haltend. * 8. 2 S 8 I Mit düsterem Blicke blieb sie vor Marien stehen, die erschrocken auf den Knien liegen geblieben war. „Seit acht Tagen habe ich auf dich gelauert, nun bist du in meine Hände gegeben!“ sagte die Zigennerin, das arme Mädchen mit der Linken bei der rechten Schulter packend und in ihrer demütigen Stellung festhaltend. „Jesus, Maria!“ rief die hinterlistig Überfallene und schlug in ihrer Angst, wie vor einem bösen Geist, ein Kreuz 31 „Ich werde nicht mehr auf dich war¬ ten, denn du wirst hier bleiben.“ Marie griff nach dem Kranze, ver¬ suchte aufzustehen und sagte entsetzt: „Laß mich, des Apothekers Tochter hat Hochzeit in Eger, ich muß den Kranz bringen — ich habe es versprochen. „Des Apothekers Tochter wird ihren Kranz haben. Du hast ihn zu bringen versprochen und ich werde für dich Wort halten, murmelte die Zigenne rin, der Wehrlosen das blühende Myrtengeflecht aus der Hand reißend und seitwärts werfend. „Was willst du tun?“ rief das arme Mädchen, die Hände faltend. „Dich totschlagen, elendes Geschöpf!“ sagte kaltblütig die Zi¬ geunerin. „Du hast noch so lange zu leben, als du betest.“ „Tue es nicht um meiner armen Mutter willen!“ rief die Unglückliche, vergeblich bemüht, aufzustehen, durch

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