Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1912

24 Blumen zierlicher binde als die an¬ dern, verkaufe ich wohl mehr und wir legen zurück für den Winter. Vielleicht gelingt es mir auch, im Bad einen Dienst zu bekommen; erhalten die Dienstleute auch von ihren Herren keinen Lohn, sind doch die Trinkgelder den ganzen Sommer über da und die fremden Herrschaften geben viel, wenn man rasch und freundlich ist und gern für sie sorgt. Die alte Frau schüttelte den Kopf sorgenvoll, als kämpfte sie zwischen dem hinterlassenen Willen des Toten und dem Gebote der traurigen Notwendig¬ keit, dann sagte sie in zärtlichem Ton: „Du hältst es nicht aus, Marie, die anderen sind alle älter und stärker, und deine Füße sind nicht gewohnt, auf den harten Steinen der Landstraße zu gehen. „Ich habe ja noch ein Paar Schuhe", antwortete das mutige Mädchen. „Wie lange werden die halten? meinte die Mutter, deren Armutein Paar Schuhe, einmal zerrissen, fast ein unersetzliches Gut schien. „Dann werden neue da sein!“ rief die Tochter und die Hoffnung auf eine tätige Zukunft, nebst der Freude, die alte Mutter zu erhalten, rötete ihre blassen Wangen. „Und wenn du nun nachtsden weiten Weg gehen mußt? „Es ist ja noch niemandem von Eger bis zum Bad ein Leid geschehen, wir gehen ja gemeinschaftlich, wie auf Pro¬ zessionen, und verkürzen uns mit Sin¬ gen den Weg. „Und die Witterung? Wenn Regen und Gewitter kommt? „Sind wir denn nicht auch bei Kirchenweihen und am Fronleichnams¬ tag naß geworden? Der warme Som¬ merregen hat noch keinem geschadet. „Wenn es nur nicht gegen den Willen deines verstorbenen Vaters wäre!“ „Könnte er uns hören, er würde mir die Erlaubnis selbst geben; war er doch immer so fleißig und hat stets für uns gesorgt. Gewiß freut er sich, daß ich nun dein Schutz geworden bin. Die alte Frau gab ihre Einwilligung und die Vorbereitungen wurden getrof¬ fen, das kleine Geschäft zu beginnen. Die wenigen Kleidungsstücke des Ver¬ storbenen, sein Handwerkzeug und eine alte, schon seit Jahren stillstehende und jeder Reparatur unfähige Taschenuhr wurden an einen Trödler verkauft und für den Erlös Blumen und Sämereien erstanden jene, um auf den Markt ins Bad getragen, diese, um auf das Platz¬ chen gepflanzt zu werden, das im tiefen Schatten der Häuser und der Kirch¬ turmmauer vor dem Fenster lag und zur Wohnung gehörte. Die Nachbarn verhöhnten die kleine Pflanzung, deren feuchte und tiefe Lage nur schlechtes Gedeihen verhieß; aber eine glückliche Hand schien die Keime versenkt zu haben, und ohne einen Sonnenstrahl nährten milde Lüfte die aufsprießenden Knospen und kühle Schatten schützten sie vor schäd¬ lichen Würmern. Die Herrin dieses neuen Gartens war unterdessen mit den älteren Gewerbsgenossinnen in den Badeort gegangen. Das Wasser mischt sich willig und unmerklich mit dem Wasser, die Wolke mit der Wolke, der Strahl mit dem Strahle, nur der Mensch widerstrebt hartnäckig seines¬ gleichen auf ähnlichem Lebenswege Die älteren Mädchen sahen es mit Widerwillen, daß die jüngere und schö¬ Sie nere Marie sich ihnen anschloß. empfanden noch mehr Arger darüber, daß die Badegäste Marie augenschein¬ lich ihnen vorzogen und am liebsten die Blumen und Sträuße bei der jüngsten Blumenverkäuferin einhandelten. Marie erhielt einen Ruf unter den Blumen¬ freunden des Ortes; man sprach von dem zarten blonden Mädchen aus Eger in dem schwarzen Kleid und grobem, schwarzbebändertem Stroh¬ hute. Selbst junge, vornehme Damen unterhielten sich mit ihr und hörten ihr Lob von den Herren ohne Mißver¬

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