Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1911

34 weder schon im Sturze durch den Luft¬ prall getötet worden oder doch längst den Wogen des Stromes erlegen. Man bemühte sich mit allgemeinem Eifer um die arme, hübsche feine junge Dame, die auf so entsetzliche Weise des Gatten beraubt und aus dem Glücke jäh ins Verderben gestürzt worden war. Sie wollte erst überhaupt keinen Trost annehmen. Sie wollte hier blei¬ ben allein in Nacht und Finsternis — — ein tollkühnes Wagnis sie wollte den steilen hohen Hang zum Ufer des Stromes hinunterklettern, dort am Wasser hineilen und rufen und suchen, bis sie erschöpft zusammenbreche oder — ein Leben selbst tot niedersinke ohne ihren Mann, der Gedanke, daß er das seine verloren habe, verloren haben müsse, schien ihr unerträglich. Erst allmählich gelang es einigen Herren und Damen, die mit vereinten Kräften der Unglücklichen Trost zu¬ sprachen, sie so weit zu beruhigen, daß den sie sich bestimmen ließ, wieder in Zug zu steigen, um wenigstens für diese Nacht bis zur nahen Hauptstadt — bei Tag könnte sie ja zu fahren dann im frühesten Morgengrauen wie¬ der an Ort und Stelle sein und sich selbst um die Sache annehmen, wenn überhaupt noch etwas zu retten war. An das letztere wagte ja keiner von all den Tröstern zu glauben. Der Zug fuhr endlich mit einer Ver¬ spätung von einer Viertelstunde wieder weiter. Niemand hatte sich um den armen Schaffner gekümmert, der nun von Schreck und Angst gelähmt und gebro¬ chen im Dienstkupee saß. Der Zug¬ führer hatte ihn sofort von jeder Amts¬ handlung suspendiert; denn ihm lag es zur Last, daß er die Wagentür nicht ordnungsgemäß geschlossen und durch diese Fahrlässigkeit den Sturz, wohl sicher den Tod eines Passagiers herbei¬ geführt hatte. Er versicherte zwar dutzendmal seinen Kollegen, die jetzt bedauernd und mitleidig um ihn stan¬ den, daß er wie immer den doppelten Verschluß genau angelegt und mit der Hand nachgeprüft habe — aber was half seine Versicherung gegenüber der Tatsache, daß sich die Tür unter der Fahrt von selbst geöffnet hatte, und wie leicht konnte er bei dem anstren¬ genden Dienste seit dem frühen Mor¬ gen in sinkender Nacht etwas über¬ sehen, die Riegel nicht fest genug ange¬ legt und so ein an sich kleines Ver¬ schulden begangen haben, das nun aber so bitter bestraft wurde. In dem Waggon, in welchem die junge Dame saß, erinnerte man sich nun wieder, das Paar schon seit einer der Südstationen beobachtet zu haben Sie hatten in einer sonst leeren Abtei¬ lung gesessen und niemand hatte, da der Zug nicht überfüllt war, ihr zärt¬ liches Tete=a=tete gestört; denn man sah ihnen auf den ersten Blick an, daß man es mit Hochzeitsreisenden zu tun hatte. Sie flüsterten und plauderten den ganzen Tag hindurch ununterbro¬ chen miteinander, und der hübsche junge Mann bemühte sich mit einer rührenden Sorgfalt, seinem überglück¬ lichen Weibchen alle jene kleinen Auf¬ merksamkeiten zu erweisen, welche eine lange Bahnfahrt bequem und erträg¬ lich machen. Sie schienen vornehm und reich zu sein und großes Gepäck bei sich zu führen. Denn selbst in den Per¬ sonenwagen hatten sie eine Menge klei¬ ner Schachteln und Kolli, ja sogar einen großen Reisekorb hereingebracht bezüglich dessen der junge Herr auf den Protest des Schaffners erklärt hatte, der Korb enthalte eine Reihe für die Dame während der Reise unentbehr¬ licher Bedarfsartikel, worauf ihm, zu¬ mal er diese. Bemerkung mit einem klingenden Händedruck begleitete, die Unterbringung dieses großen Gepäck¬ tückes im Wagen nicht länger ver¬ wehrt wurde. Vor dem Unfalle selbst hatte längere Zeit hindurch niemand mehr das Paar gesehen und beachtet. Es war Nacht geworden, und jedermann hatte es sich nach der langen Fahrt, die alle Rei¬

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