Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1911

33 Der Sturz. von Ernst Murr. Eine Kriminalnovelle (Nachdruck verboten.) Abteilungstüren eines der großen I. Waggons vorüber führte, und eine er Expreßzug brauste durch junge Dame eilte auf die ersten näch¬ den engen Taleinschnitt, der ∆ ten Menschen zu, die heraustraten, ich zwischen den beiden indem sie wie eine Verzweifelte rief: 1hohen Bergketten hinzog. „Helfen Sie! Helfen Sie! Mein Mann Die Geschwindigkeit, mit welcher sich ist aus dem Wagen über die Brücke in der Train bewegte, war eine derartige, den Strom gestürzt!“ daß einigen nervöser Angelegten unter — Einen Moment starren Entsetzens den Reisenden bang wurde. Ein un¬ dann griff eine Hand nach der Not¬ unterbrochenes, jedes Wort erstickendes leine, ein gewaltiger Ruck ging durch Krachen, Dröhnen, Knattern und Schla¬ die Wagenreihe, und der Zug hielt. gen ging durch die Coupés, und selbst Laufen — Rufen — irrende Lichter im Speisewagen, der mit den muster¬ Schreck und Angst in allen Mienen gültigsten Einrichtungen zur Bequem¬ Flucht aus den Coupés. lichkeit der Reisenden versehen war, „Was ist's? Was gibt's?“ konnte man kaum ein Glas an den Endlich ließ sich durch Befragen der Mund führen. vornehmen jungen Dame, die sich wie Nun zum erstenmal nach etwa einein¬ eine Verzweifelte gebärdete, so viel halbstündiger Fahrt hielt der Zug ein feststellen, daß sie mit ihrem Mann an paar Minuten in einer kleinen Sta¬ der Waggontür gestanden hatte und tion, welche der Knotenpunkt für zwei in die Nacht hinausgesehen, daß sich Seitenlinien war, die hier aus Nach¬ plötzlich die Tür geöffnet hatte, und bartälern zusammentrafen. Das Ein¬ daß ihr Mann im nächsten Moment und Aussteigen der Reisenden ging autlos in der Tiefe verschwunden war. rasch von statten. Die Schaffner dräng¬ Er hatte direkt an der Tür gelehnt ten zur Eile. Schon wurden wieder die — sie selbst war einem gleichen Schick¬ Türen geschlossen — ein Pfiff des Zug¬ sal nur dadurch entgangen, daß sie führers, ein Signal der Maschine, und etwas zur Seite gestanden. weiter ging die rasende Fahrt in die Entsetzen erfaßte alle, die es hörten. Nacht hinein. Vereinzelte Stimmen nannten es frei¬ Nach zehn Minuten vielleicht ein lich eine Unvorsichtigkeit, sich im fah¬ kurzes Warnungszeichen — dann schien renden Zuge gegen eine Wagentür zu sich plötzlich, wenn man aus dem lehnen. Die Mehrzahl aber schalt so¬ Wagen sah, alles Greifbare verloren ort auf den Leichtsinn des Schaffners, zu haben; man hätte meinen können, der ein so gräßliches Unglück verschul¬ man schwebe in der Luft, wenn nicht det hatte. — Ge¬ das — allerdings verminderte Aber was sollte geschehen? räusch, mit dem der Zug über die Die Beamten berieten sich. Schienen rollte, eines anderen belehrt Dann wurde der Brückenwärter her¬ hätte. Nach kurzem aber, sobald man beigeholt und verständigt. In seinem sich in der Dunkelheit orientiert hatte, Häuschen befand sich ein Telegraphen¬ sah man nun tief unten durch die Nacht apparat. Man depeschierte sofort in den Strom heraufschimmern, über den das nächstgelegene Städtchen und rief man auf einer kühnen und hohen eine Hilfsaktion auf. Brücke knapp an ihrem Rande fuhr. Aber was konnte mit all dem noch Da mit einem Male klang ein Schrei gedient sein? Der Unglückliche war ent¬ den schmalen Gang herein, der an den 3

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