Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1911

30 sagte sie sich, ruhte er doch nicht eher, bis sein Blick sie hinter dem mit roten Blüten bedeckten Geraniumstock am Fenster erspäht und sie mit tieferglü¬ hendem Gesichtchen seinen Gruß in lieblicher Verwirrung erwidert. Gut daß Tante Brigitte es nie bemerkt, die stets um diese Zeit in Küche und Keller zu wirtschaften hatte. Von der nahen Straße tönte jetzt Pferdegetrappel an Marthas Ohr, sie bog sich vor, um zu sehen, wer zu dieser frühen Morgenstunde des Weges ge¬ ritten kam; eine Ahnung durchzitterte dabei ihr Herz, die es zu schnelleren Schlägen antrieb. Jetzt bog das Pferd um die Ecke. O, Gott, wie geblendet legte sie die Hand über die Augen, er war es, er, mit dem sich ihre Gedan¬ " — ken soeben beschäftigt. Jetzt sah er herauf, jetzt hatte er sie bemerkt, wie der Blitz sprang er vom Pferde, das er an den nächsten Baum anband. Martha hatte ein unbestimmtes Ge¬ fühl der Angst, des Schreckens, das Bild ihrer seligen Mutter stieg vor ihren Augen auf, es war ihr, als müsse sie fliehen, schnell und weit weg aus dem Bereiche dieser Augen, die solchen Zauber auf sie ausübten. Sie konnte nicht, ihre Füße waren wie an den Boden gewurzelt und jetzt, jetzt stand er vor ihr und breitete die Arme nach ihr aus. „Martha, süßes, holdes Mädchen“ kam es leise von seinen Lippen, und mit einem Schrei des Entzückens stürzte sie sich in seine Arme. Über ihnen, in den Blättern des Nußbaumes, sang ein Pirol gar lieb¬ liche Weisen von Frühlingslust und junger Liebe. Frau Brigitte stand im Zimmer und schüttelte leise mit dem Kopfe. Mar¬ thas Aussehen in den letzten Wochen wollte ihr gar nicht gefallen und das Gebaren des jungen Mädchens hatte sie in der Überzeugung gestärkt, daß letzteres etwas auf dem Herzen habe, ja, ja, mit dem Pfarrer war es nicht richtig. Das wußte sie schon lange. Warum es aber damals zu Marthas Geburtstag zwischen den beiden nicht ins reine gekommen, konnte sie nicht ergrübeln, und so sehr auch sie in dieser Beziehung eine Tochter Evas war, was die Neugierde anbetraf, hatte sie doch nichts gefragt; es mußte ja kommen, wie sie es mit ihrem scharfen Blicke vorausgesehen. Deshalb hatte sie auch schon prüfende Muste¬ rung gehalten, Schränke und Truhen mußten ihren Inhalt zeigen, große Ballen Leinwand, die nach und nach gewebt worden, wurden ausgemessen, die Wäsche der seligen Frau Försterin frisch und schön geordnet und mit rosa Bändchen umwunden, was gar zierlich aussah, just, wie es sich für eine junge Braut schickte. Draußen schlug ein feiner Regen an das Fenster. Der Förster saß in der Sofaecke und las eifrig in der Zeitung. Tante Brigitte trippelte geschäftig hin und her und Martha setzte sich eben an das alte Spinett, um dem Vater ein kleines Liedchen vorzusingen; sie wußte, er hörte es gern. Ihr war es schwer ums Herz, denn heut früh hatte der junge Graf Abschied von ihr ge¬ nommen, um noch für einige Zeit in die Residenz zurückzukehren. Dann, nächstes Jahr, wenn er wiedergekom¬ men, wollte er bei dem Vater um sie werben, um sie als sein geliebtes Weib in das Schloß seiner Väter einzufüh¬ ren. Bis dahin hatte er sie gebeten das Geheimnis ihrer Liebe streng zu hüten, und um nicht Verdacht zu er¬ regen, sollten auch keine Briefe zwi¬ schen ihnen gewechselt werden. Diese Heimlichkeit nagte schwer an Marthas Herzen, sie war sich ihres Unrechtes gegen Vater und Tante voll bewußt, sie, das gesunde Waldkind, fing an, nervös zu werden und ihre roten Wan¬ gen zu verlieren. Die Tür wurde geräuschlos geöffnet, der Pfarrer trat ein, in der Hand einige frische Rosen, die er selbst in seinem kleinen Gärtchen für die Aus¬

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