Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1909

60 an seinem Kabinett, und weil er sprechen hörte, ging er weiter nach dem Kontor. Das junge Mädchen verlor vor Schrecken die Geistesgegenwart, sie vergaß, daß sie durch die Korridortür hätte flüchten können. Angstvoll blickte sie nach einem Versteck umher, aber nirgends fand sie einen Platz. Jetzt trat auch schon Wollberg ein und schaute sie erstaunt an. „Du bist hier? sagte er. „Mein Magenleiden meldete ich plötzlich und ich ging nach Hause, um eine Pille zu nehmen. Da hörte ich hier sprechen.“ Er blickte forschend um¬ her. „Bist du denn allein?“ „Natürlich!“ antwortete sie, tonlos piepend, des Vaters Frage. „Ich hörte dich doch reden, fuhr er fort. „Hältst du denn Selbstgespräche? und er blickte immer noch forschend umher. „Ich — ich war am Telephon, um mit einer Freundin zu sprechen „Ach so! Und da habe ich deine Unterhaltung unterbrochen? So sprich doch weiter mit deiner Freundin!“ „Nein, es war zu Ende“, stammelte Lieschen. „Ist denn schon abgeklingelt?“ fragte er. „Da klingelt's ja wieder an!“ Es wurde tatsächlich ein Zeichenge¬ geben. Lieschen stand wie auf glühenden Kohlen, sie wäre am liebsten davonge¬ rannt und konnte doch nicht von der Stelle. Als aber ihr Vater dann ans Telephon trat und, um sein Töchterchen in Humor zu bringen, mit einer ge¬ zwungenen Fistelstimme in den Apparat ∆ „Ja sprach, da erkannte sie deutlich ihres Geliebten Stimme und entfernte sich voll Angst und Pein. „Miezchen!“ rief es von der anderen Seite. Wollberg stutzt; das war doch keine Mädchenstimme! Und dieser sonderbare Kosename: Miezchen! „Ja!“ sagte er mit verstellter Stimme. „Warum brachst du denn vorhin plötz¬ lich ab? „Oho,“ murmelte Wollberg für sich, 8 „jetzt kommen wir dahinter!“ Ins Tele¬ phon fistulierte er: „Fühle mich un¬ wohl! „Du sprichst heiser“, kam es zurück. „Werde mir um Gotteswillen nicht krank, Lieschen! Denk' an den Ball! „Jetzt möchte ich nur wissen, wer dieser Urian ist!“ brummte Wollberg. „Hören Sie mal — höre mal!“ rief er mit rauher Stimme. „Bist du es denn selbst?“ fragte Fridolin Born nach einigen Momenten. „Jawohl, bin es selbst!“ schnauzte Wollberg zornentbrannt. „Wer sind Sie und wie kommen Sie dazu, sich mit meiner Tochter zu unterhalten?“ Es kam indes keine Antwort, das Telephon blieb stumm. Wollberg drückte heftig und anhaltend auf den Knopf, dann rief er das Amt an. „Hier Nummer 83!“ donnerte er. „Sie scheinen die Verbindung unterbrochen zu haben! „Sie sind seit zwanzig Minuten mit Nummer 190 verbunden!“ eiferte eine weibliche Beamtenstimme. Der Reeder vergaß, etwas darauf zu erwidern. Nummer 190, das war Füll¬ ner & Sohn. Er klingelte ungestüm an. Inzwischen hatte aber bei dieser Firma der Kobold des Zufalls sich eingemischt Der Kommerzienrat Füllner war früher als gewöhnlich nach Hause gegangen. Da ertönte die Telephonklingel. Füll¬ ner trat an den Apparat. „Hier Füllner & Sohn. Wer dort? „Hier Wollberg! Ich verbitte mir für allemal diese hinterlistigen Don Juan¬ Streiche! Das Donnerwetter soll Ihnen in den Magen fahren! Verstehen Sie? Ich werde Maßregeln treffen, daß solche Narrheiten nicht mehr vorkommen! Der Kommerzienrat zog die Brauen in die Höhe. „Sie sind wohl über¬ 7 geschnappt? sprach er ins Telephon. „Verwechseln wohl die Begriffe. Wer spricht denn überhaupt?“ „Hier Wollberg selbst!“ „Und hier Füllner auch selbst. Ich habe weder Zeit noch Lust, unverständ¬ lichen Kohl anzuhören. Schluß! „Der Mensch schimpfte wie ein Rohr¬

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