Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1908

6 Der Freiherr hatte sein eigenes Unglück vergessen. Ihm, als Herrn des Dorfes lag es ob, sich zur Brandstätte zu verfügen und an Ort und Stelle die geeigneten Maßregeln zu treffen. „Laß ein Pferd. an die Spritze spannen,“ rief er dem Diener zu, „die Knechte sollen sich sofort ins Dorf ver¬ fügen und Hand ans Werk legen, ich werde augenblicklich folgen. Wen trifft das Unglück?“ „Den Schreiner, er hat eine Frau und vier Kinder.“ „Das hat er davon!“ sagte der Frei¬ herr unmutig. „Er war der einzige im Dorfe, der sich stets weigerte, seine Habe zu versichern.“ in welchem der In dem Augenblick, Freiherr das Zimmer verlassen wollte, trat Marie ihm entgegen. „Wohin willst du, Ewald?“ „Hinunter ins Dorf“ erwiderte der junge Mann, indem er das Mädchen sanft beiseite schob. „Sorge dafür, daß die Leute hier ein Obdach finden, wenn's auch nur für eine Nacht ist.“ Er eilte fort, Marie sah ihm nach, bis er am Ende des Korridors ihrem Blicke entschwand. „Sein Herz denkt zu edel,“ sagte sie leise, „ich muß für ihn handeln. Trotz aller Beweise für den Verrat und die Schurkerei derjenigen, die seine Freundschaft mißbrauchten, glaubt er noch immer an die Redlichkeit der Menschen. Sie schritt langsam über den Korridor der Treppe zu. „Wie aber dann, wenn meine Vermutungen mich täuschen, wenn mein Verdacht unbegründet ist?“ fuhr sie fort indem sie stehen blieb. „Wird man mich nicht des Diebstahls beschuldigen? Wäre die Anklage nach dem Wortlaut dis Gesetzes nicht gerechtfertigt? Mut, Mut du schwaches Herz, für sie, der ich so viel verdanke, für ihn, den ich liebe, mußt di alles wagen, alles opfern können.“ Marie stieg die Treppe hinunter und trat in die Wohnung des Verwalters, der ebenfalls sich in das Dorf begeben hatte Der Freiherr traf nach wenigen Minuten auf der Brandstätte ein. Das Häuschen war zweistöckig, glücklicherweise lagen die Nachbarhäuser zwanzig Schritte von demselben entfernt. Die Flammen hatten das obere Stockwerk bereits ergriffen. Die Bauern, statt zu retten und zu löschen, standen untätig in Gruppen um¬ her, und tauschten ihre Ansichten über die Entstehung des Brandes aus, nur einige wenige beteiligten sich an der Rettung der Mobilien. Der Freiherr ließ sofort eine Kette von der Brandstätte bis zum Brunnen bilden, und befahl einigen, die Mobel, welche vor der Hütte lagen, fortzuschaffen. Da stürzte plötzlich eine Frau mit dem gellenden Ruf: „Mein Kind! Mein Kind!“ auf das brennende Haus zu. Der Freiherr hielt sie zurück. „Wohin L wollt Ihr?“ fragte er, „seht Ihr denn nicht, daß Ihr in den Flammen umkom¬ men würdet? „Herr, mein Kind, schafft mir mein Kind!“ rief die Frau händeringend. „Laßt mich hinein.“ „Drei sind gerettet,“ sagte einer der umstehenden Bauern, „das vierte liegt oben im zweiten Stock. „Wo ist der Schreiner?“ fragte Ewald. „Er hat einigemal versucht, sein Kind zu retten, aber es ist unmöglich hineinzu¬ kommen. „Laßt mich, und müßte ich mit meinem Kinde sterben, ich will hinein!“ rief die verzweifelnde Mutter. „Will keiner von euch die Rettung des Kindes wagen?“ wandte der junge Mann sich zu den Bauern. „Wer nichts zu verlieren hat, kann's versuchen, wir setzen unser Leben eines fremden Kindes wegen nicht aufs Spiel.“ Der Freiherr entriß einem der Um¬ stehenden einen mit Wasser gefüllten Eimer und schwang ihn mit Riesenkraft C hoch über sein Haupt, so daß der Inhalt desselben sich über ihn ergoß. Im nächsten Augenblick war er in dem brennenden Hause verschwunden. Rauch und Flam¬ men schlugen ihm entgegen, er beachtete es nicht, er eilte mit Fieberhast die schmalt Treppe hinauf und trat durch die erste „ Tur, an deren Balken bereits die Flam¬ men leckten, ein. Er zertrümmerte das

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2