Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1907

einen wahrhaft vernichtenden Charakter an. In Catanzaro stürzten viele Mauern ein und töteten mehrere Personen. Pizzo, Monteleone di Cala¬ bria, Triparni, Zammaro, Piscopio, Palmi wur¬ den fast vollkommen zerstört, in Martirano, Ste¬ fanaconi, Zungri, Cassaniti sind fast alle Ge¬ bäude eingestürzt, ebenso in mehreren anderen größeren und kleineren Ortschaften, überall viel¬ fache Todesopfer fordernd. Die Zahl der durch das Erdbeben und seine Folgen Getöteten be¬ trug in den heimgesuchten Gegenden mehr als 3000 Personen, jene der Verwundeten weit über 10.000; der materielle Schaden, den die Kata¬ strophe verursacht, zählt nach Millionen. Die traurigen wirtschaftlichen Verhältnisse des grö߬ ten Teiles der Gemeinden in Kalabrien, die keine Wohlfahrtspolizei, keine Krankenhäuser und keine Unterkunftsgelegenheiten für Bettler und Arme kennen, haben sich mit erschütternder Klar¬ heit in diesen schreckensvollen Tagen gezeigt, die aus ganz Kalabrien einen einzigen wüsten Haufen von Leichen und Trümmern gemacht haben. Die Verwundeten konnten nicht verpflegt werden und es fehlte an Medikamenten und an Unterkunftsgelegenheiten; im offenen Felde mußte man Baracken und Zelte improvisieren, wo die Verwundeten auf dem nackten Boden gebettet wurden und die erste ärztliche Hilfe erhielten. Viele Schwerverwundete starben wegen mangelnder Pflege und die Leichen mußten ohne Sarg, einfach in Tücher gehüllt, in die Gräber geworfen werden. Herzzerreißende Szenen wechselten mit Bildern des Grauens und Entsetzens! Knapp 7 Monate nach der Erdbebenkata¬ strophe in Kalabrien begann der Vesuv sein Zerstörungswerk, so die Reihe der Elementar¬ katastrophen schließend, die, mit den Eruptionen des Stromboli beginnend, Italien in kurzer Zeitfrist heimgesucht haben. Nach einer langen Periode von kleineren Eruptionen und Lavaaus¬ brüchen trat der Vesuv am 4. April 1906 plötz¬ lich in eine Phase äußerst bewegter Tätigkeit ein. An diesem Tage stürzte der kleine Kegel, der sich auf dem Gipfel des Berges gebildet hat auf der pompejanischen Seite unter starkem Lavaergusse ein. Die Kraterwand senkte sich dem¬ zufolge auf dieser Seite um nahezu 100 Meter und die Lava floß in breitem Strome in der Richtung von Resina und Boscotrecase. Doch schien es im Anfange, daß keine besondere Ge¬ 73 fahr für das Land rings um den Vesuv bestehe. Aber es schien eben nur so, denn die diesmalige Eruption des Vesuvs darf in ihrem weiteren Verlaufe zu den gewaltigsten dieses ewig un¬ ruhigen Vulkans gerechnet werden. Bald drohte der Lavastrom Besitztümer in Boscotrecase und Torre Annunziata zu überschwemmen. In der Nacht auf den 5. April öffnete sich am Fuße des Vesuvkegels ein neuer Krater, dem ein Lava¬ strom entsprang, der mit einer Geschwindigkeit von 100 Metern per Stunde in der Richtung gegen Boscotrecase sich bewegte und diese Ort¬ schaft so ernster Gefahr aussetzte, daß deren Ein¬ wohner, von Panik ergriffen, ihre Wohnungen verließen und flüchteten. Rasch war denn auch die Ortschaft vom Lavastrome vollständig einge¬ schlossen und Torre Annunziata bedroht, in dessen Nähe mehrere Bauernhäuser von der Lava zerstört wurden. Ein schwerer Aschenregen begann sich bald über die Umgebung des Vesuvs zu ergießen. Der Hauptkrater schleuderte wei߬ glühende Körper bis zu einer Höhe von 500 Meter in die Luft; in verschiedenen Ortschaften im Machtgebiete des Vesuvs stürzten Kirchen und Häuser unter der Last der auf ihnen ruhenden Aschenmassen zusammen. Die Cooksche Vesuv¬ bahn und das Observatorium auf dem obersten Plateau des Berges wurden vernichtet; die Be¬ völkerung zahlreicher Orte ergriff die Flucht alles zurücklassend, nur um das nackte Leben zu retten. Tausende von Flüchtlingen strömten nach Neapel, das bald ebenfalls von lebhafter Panik ergriffen war, denn auch auf seinen Straßen und auf seinen Gebäuden türmten sich Asche und Sand. Pompeji geriet in Gefahr. Und immer weiter drang das Unheil vor. Der Lava¬ strom erreichte in kurzem eine Höhe von 7 Meter und eine Breite von 200 Meter und näherte sich mit unheimlicher Geschwindigkeit den Wohn¬ häusern von Torre Annunziata und Pompeji Boscotrecase ward vom Lavastrome überflutet der über die Ortschaft Oratorio immer mehr gegen Torre Annunziata vordrang. Von Bosco¬ trecase waren nur mehr geborstene Mauern, chwarze Trümmer, verkohlte Bäume, rauchende Ueberreste vorhanden. In Ottajano und Somma Vesuviana erreichte die Lava am 8. April mit¬ tags die Höhe von mehr als zwei Metern; in Ottajano und San Giovanni stürzten Häuser ein, in der Ortschaft San Giuseppe Vesuviano außer mehreren Häusern auch die Kirche. Ein

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