Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1907

44 wurde ich noch zu einer armen Frau ge¬ rufen, die an Schwindsucht leidet. Schon seit Wochen ist sie so hinfällig, daß sie nicht ausgehen kann; heute ward ich aber erst benachrichtigt. „Und warum erst heut?“ fragte Resi. „Ja, fragen Sie, warum, wahrschein¬ lich aus Angst vor dem Krankenhaus Die Angst der Kranken vor den Kranken¬ häusern, wo sie es doch so gut haben ist geradezu epidemisch. Und denken Sie gnädiges Fräulein, das Erste, um was mich die Frau bat, war, doch um jeden Preis die Dame ausfindig zu machen, die ihr die Boa gegeb* „Die Boa, die Boa?“ rief Resi, ihn unterbrechend. „Ja, eine wunderschöne Boa“, sagte der Doktor, Resi erstaunt ansehend. „Sie hatte in der Straße ver¬ kauft und so sehr gefroren, da sei eine junge Dame gekommen, schön wie ein Engel des Himmels, und habe ihr die die Boa umgelegt. Andern Tages habe sie Dame die Boa wieder holen wollen sei aber krank geworden, habe niemand gehabt zu schicken, auch niemand gewußt dem sie die Boa gern anvertraut hätte, und nun bitte sie mich inständigst, die Dame ausfindig zu machen, so daß ich morgen eine Annonce in die Zeitung etzen lassen will.“ Resi, die ihn die Zeit über starr angesehen, drehte ihm auf einmal den Rücken, so daß der Dokto nicht wußte, wie ihm geschah, lief zu ihrer Schwester, nahm sie am Arm und zerrte die Widerstrebende bis zu dem Platz, wo der Doktor stand. „Martha deine Boa ist gefunden“, sprudelte sie in ihrer lebhaften Art hervor. „Doktor S., meine Schwester“, stellte sie vor. „Und nun erzählen Sie, Herr Doktor, was Sie mir eben mitgeteilt haben, denn meine Schwester ist die Besitzerin der Boa. „Sie, Sie gnädiges Fräulein, haben der armen Frau an jenem kalten Tage die warme Hülle umgelegt?“ kam es von den Lippen des Doktors. „Ja„ agte Martha einfach. Bewundernd blickte der Doktor auf das junge Mädchen, das ihn mit den großen, tiefen Augen so erstaunt anblickte, als ob es so etwas Großes gewesen, ein armes Weib vor Kälte zu schützen. Und nun kam Frage auf Frage, Antwort auf Antwort. Der Doktor erzählte ihr alles, und sagte ihr, sie solle eilen, wenn sie die Kranke nock sehen wolle, denn ihre Tage seien ge¬ zählt. „Morgen Mittag bin ich dort schreiben Sie mir die Adresse auf, Herr Doktor.“ Er schrieb schnell mit Bleistift die Adresse und reichte ihr dieselbe mit tiefer Verbeugung, ihr noch einige Worte sagend, nur um noch einmal in diese leuchtenden, blauen Sterne zu blicken, in denen eine Tiefe und Reinheit strahlte. wie er sie noch nie gesehen. Er fühlte es heiß in seinem Herzen aufsteigen, ihn schwindelte, es war ihm, als habe er in ein Traumland geblickt, und unter dem Einfluß dieses Gefühls bückte er sich plötzlich und Martha fühlte einen heißen Kuß auf ihrer herabhängenden Hand, dort, wo der Handschuh aufhörte. Dann verließ er schnell die beiden Mädchen. Martha blickte ihm wie geistesabwesend nach, bis die Schwester ihren Arm um sie legte und ihr wohl neckend etwas ins Ohr flüsterte, denn Martha legte ihr, heiß errötend, die Hand auf den kleinen Mund. Tags darauf ging Martha mit Ein¬ gemachtem und vielen anderen schonen Sachen, die sie der Mutter abgebettelt zu der kranken Frau. Wie leuchteten die Augen der Kranken auf, als sie das junge Mädchen erblickte! Wie glücklich war sie, der jungen Dame ihr Eigentum zurückerstatten zu können. Martha setzte sich zu ihr, nahm ihre Hand in die ihrige und sprach liebevoll mit der Kranken, die die Wohltat dieses Besuches so voll und so ganz genoß. Es dauerte nicht lange, kam auch der Doktor natürlich wie zu¬ fällig; er hatte es aber fein eingerichtet gerade mittags da zu sein, wo er Martha dort wußte. Als letztere sich zum Weggehen anschickte und ihre Boa mit¬ nehmen wollte, trat ihr der Doktor ernst entgegen, nahm ihr die Boa sanft aus den Händen und sagte leise zu ihr: „Ich kann es als Arzt nicht dulden, gnädiges Fräulein, daß Sie sich der Ansteckung

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