Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1907

28 zur großen Verwunderung der Offiziere zu schluchzen an. Der Oberst sprang von seinem Platze auf und begann im Zimmer auf= und abzugehen. Er machte eine Bewegung mit der Hand, als wenn er etwas verscheuchen wollte, das ihm plötzlich den Blick trübte dann geriet er in Zorn über sich selbst und sagte: „Zum Teufel! Weiter fehlte mir nichts, als noch weich zu werden! Er betrachtete den Kommandanten, der, ebenso bleich wie er selbst, an dem Tische, auf dem seine Finger nervös hin¬ und herfuhren, sitzen geblieben war. „Ja, ja, der Krieg ist etwas Entsetz¬ liches!“ murmelte der Kommandant. „Vor dem Kriege hatte ich mein Haus nie verlassen“ fuhr der Gefangene fort. „Dort wurden alle meine Kinder geboren und dort sah ich, wie sie aufwuchsen und wie sich ihr Geist entwickelte. Keine Klei¬ nigkeit entging mir; weder der Augenblick, da sie mich zum erstenmale erkannten noch der Augenblick, da sie ihre ersten Worte stammelten. ... Ich erinnere mich an alles, alles. ... An die kleinen, noch so schwachen Beinchen ... an die Münd¬ chen, die sie wie die Vöglein im Neste öffneten... Wer soll ihnen jetzt ihre Nahrung bringen? ... Die Mutter .. sie ist selbst in Gefahr ... Er konnte nicht aussprechen, die Kräfte verließen ihn gänzlich. „Ganz wie bei uns, lieber Freund ganz genau so!“ sagte der Oberst und ging fieberhaft im Zimmer auf und ab. „Was sollen wir aber tun? Ich denke, man könnte bis morgen warten, bevor man ihn zum General schickt. Was meinen Sie dazu, Oberst?“ „Ja, ja, morgen . .. ganz recht ...“ „Für den Augenblick kann er bei uns bleiben ... „Ganz recht, mag er bei uns bleiben. *Ich werde Semion sagen, daß er ihm ein Bett herrichtet ... Vier Kinder! „Und wenn der General ihn erschießen läßt, wie dann, Oberst?“ „Hm, ja! . .. Alles hängt vom Augen¬ blick ... Man kann doch mit dem Ge¬ neral nicht von den Kindern sprechen ... „Der Krieg ist etwas Gräßliches, Oberst, 77 nicht wahr? „Ja, wahrhaftig!“ antwortete der Oberst. „Aber Sie wissen, die Pflicht ... und die Uniform . . . und der Eid. * * * Wahrhaftig, ich wünschte, der Teufel holte den ganzen Feldzug! Denken wir bis morgen nicht mehr daran! ... Mir ist das Herz wie zugeschnürt! ... Fragen Sie ihn, ob er Wein trinkt! Wir wollen zusammen speisen. III. Der Gefangene schlief mit den Offi¬ zieren in einem Zimmer. Bald wurde alles still. Nur das Knallen vereinzelter Schüsse, deren Schall halb vom Nebel er¬ stickt war, ließ sich hören. Das waren die Türken, die nicht schweigen wollten und den Russen, die das Feuer nicht er¬ widerten, ihre Kugeln zusandten; bald aber wurden auch sie müde. Und die Nacht herrschte jetzt auf der Erde und hüllte alles mit ihrer feuchten Dunkelheit ein; die mit Schnee bedeckten Gipfel der Berge hoben sich gespenstisch von dem finsteren Horizont ab:. * Der Kommandant konnte nicht ein¬ schlafen. Er wälzte sich ruhelos unter dem Militärmantel, der ihm als Decke diente hin und her, warf ihn ab, um ihn sofort wieder zu nehmen, begann wohl zum zehntenmale die Lektüre der Zeitungen die er dann wieder fallen ließ, warf scheue Blicke auf den schlafenden Türken und lauschte auf die wirren Worte, die ihm in seinem aufgeregten Schlummer ent¬ schlüpften. Aergerlich über sich selbst, wollte der Kommandant sich zwingen, an etwas anderes zu denken, aber immer kehrte sein Geist zu demselben Gegenstande zurück... Und selbst, als er die Augen endlich schloß als sein Atem gleichmäßiger geworder war, als die Nacht das ganze Zimmer in ihre wohlige Umarmung zog, setzte sein Hirn die Arbeit fort, ohne den Gegen stand zu wechseln. Er träumte von Kindern aber es handelte sich nicht mehr um die

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