Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1907

16 sämtlich wieder besser geworden wären, mit Ausnahme eines einzigen, der hätte aber außerdem die Schwindsucht gehabt und es sei gar nicht ausgemacht, an wel¬ cher von beiden Krankheiten er eigentlich gestorben sei. Die Schwindsucht aber hatte Fritz ja auf keinen Fall, und insofern konnte Mutter Jentzen sich beruhigt fühlen. Das ganze Dorf bezeigte den alten Leuten, sobald die Nachricht von Fritzens Krankheit sich verbreitete, seine Teilnahme und sein Bedauern; nur einer rieb sich stillvergnügt die Hände, Peter Nettel¬ meier, der schon mit einigem Ingrimm daran gedacht hatte, daß er sich für die Festzeit wieder unter irgend einem Vor¬ wande in Sicherheit bringen müsse. Nun konnte er ruhig dableiben und am Ende unmöglich war's ja auch nicht, daß Fritz seiner Krankheit erlag; Beispiele hatte man fürwahr genug, daß gerade junge kräftige Leute einem solchen An¬ stoßeerlagen— und dann konnte er, Peter Nettelmeier, wiederum frei auf¬ atmen. Die Rechnung war indes ohne den Wirt gemacht: Fritz Jentzen starb nicht, nur lange, lange Zeit zog sich seine Krankheit hin. Die Frühlingssonne hatte bereits den Schnee draußen weggetaut, und die Lerchen sangen wieder über der Heide, als er zuerst sein Bett verlassen durfte. Fritz Jentzen mußte aber vorläufig noch im Hospitale verbleiben, und der freundliche Hospitalarzt versicherte ihm auch, es sei für's erste an seine Ent¬ lassung noch gar nicht zu denken, wenn er sich nicht sofort einen Rückfall des Uebels zuziehen wolle. Gegen diesen Aus¬ spruch gab es denn freilich keine Einrede; aber die Zeit wurde dem armen Burschen unsäglich lang. Eine solche Untätigkeit hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht kennen gelernt, und er meinte oft, er sehe jetzt ein, wie schlimm doch die reichen Leute, die er so oft beneidet hatte, daran seien, daß sie sich so quälen müßten, die Zeit totzuschlagen, viel schlimmer, als ein Armer um sein täglich Brot. Einmal, als der Doktor seinen übli¬ chen Morgenbesuch in dem Krankensaal, den Fritz mit drei oder vier anderen teilte, abgestattet hatte und im Begriff war, zu gehen, wandte sich derselbe in der Tür noch einmal wieder um. „Sie, Füsilier Jentzen, sagten Sie mir nicht einmal, daß Sie aus Ellerhagen gebürtig sein?“ Fritzbejahte. „Es ist gestern ein Kranker aus Ihrem Dorfe eingeliefert worden, der sich durch einen bösen Fall einen Schädelbruch zugezogen hat. Es ist ein Junge von vierzehn oder fünfzehn Jahren, ich höre, er soll eigentlich nahezu blödsinnig sein. Kennen Sie ihn viel¬ leicht? Ich kann mich im Augenblick auf seinen Namen nicht besinnen. „Tönjes!“ sagte Fritz erschrocken. „An¬ ton Ehlers, nicht wahr, Herr Doktor?“ „Ich glaube, ja, so war der Name. Wenn Sie ihn einmal sehen wollen, so teht dem nichts entgegen, aber erkennen wird er Sie nicht, das Bewußtsein ist bis so weit noch nicht zurückgekehrt.“ Fritz war in einem Augenblick an der Tür und folgte dem voranschreitenden Arzte nach dem entgegengesetzten Ende des langen Korridors, wo derselbe die Tür eines kleinen Zimmers öffnete, in welches hell die Strahlen der Morgen¬ sonne fielen. Lautes Schnarchen tönte den Eintre¬ tenden entgegen. „Schläft er so fest?“ fragte Fritz, an das niedrige Bett tretend, auf dem, den Kopf mit Tüchern und Bandagen dicht umwunden, der arme Tönjes lag. „Das ist kein natürlicher Schlaf!“ be¬ richtigte der Doktor. „Solch ein Schnar¬ chen stellt sich meistens ein, wenn das Ge¬ hirn schwer verletzt ist.“ „Kann er noch wieder hergestellt wer¬ den?“ fragte Fritz, dessen Augen — seine Krankheit hatte ihn eigentümlich weich gemacht — sich, ohne daß er es wußte, mit Tränen fullten. Der Doktor schüttelte den Kopf. „Nein, durchkommen wird er nicht. Sollte er aber doch wieder zum Bewußt¬ sein erwachen, so wäre es ihm vielleicht lieb, wenn er ein bekanntes Gesicht er¬

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