Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1906

58 Er seufzte wieder. „Fräulein weiß gar nichts. Vielleicht bilde ich es mir auch nur Ich ein, daß Gerhard schlecht aussieht. werde übrigens heute Abend, wenn ich nach Hause komme, mit Gerhard selbst sprechen. Mit dem Jungen ist nicht alles richtig, fürchte ich. Er geht mir seit ein paar Tagen scheu aus dem Wege. „Unsinn, Karl! Das bildest du dir ein. Deine Nerven sind überreizt.“ Er küßt sie flüchtig, mit einer gewissen Ungeduld. Warum ist er so schwach ihr gegenüber, so nachgiebig! Seiner besseren zu Ueberzeugung entgegen ihr immer willen, um sie bei Laune zu erhalten Immer noch in seine schöne, strahlend heitere, lebenslustige Frau verliebt. Angstvoll besorgt, daß ein Versagen ihrer Wünsche ihn um das bringen könnte, was an ihr ihn bezaubert, ihre immer sonnen¬ trahlende, sorglose Heiterkeit. Bewundert und umfeiert auf all diesen Festen, ge¬ nießt sie in vollen Zügen die Eitelkeits¬ triumphe, und doch ist sie mit jeder Re¬ gung sein. Er zergrübelt sich den Kopf, wie er diese unleidliche Lebensführungändern könnte, die alle häusliche Ruhe unter¬ gräbt, überlegt, wie das geschehen könnte, ohne sie zu ärgern, als er, in die Wagen¬ ecke gedrückt, seiner Fabrik zudampft. Wie anders war das, ehe sie in die Residenz übersiedelten! Welch schönes Familien¬ leben! Wie waren sie für die Kinder, die Kinder für sie da! Und nun alles mit einem Schlage geändert, seit er den glän¬ zend dotierten Posten als Direktor in der Großstadt annahm und seine schöne, talentvolle Frau, umschmeichelt und um¬ worben, immer mehr in den Strudel des Gesellschaftslebens hineingezogen ward und er mit ihr. Hätte er der Lockung da¬ mals widerstanden, wie anders sähe es heute aus! Schwach, schwach, schwach — rüttelten die Eisenbahnräder ihm ins Ohr. Ja schwach, gestand er sich selber. Schwach ihrem Lächeln, ihren bittenden Augen gegenüber. Schwach, daß er da¬ mals ihren Bitten nachgab und sein be¬ scheidenes Leben verließ. Nur von ihr könnte die Umkehr ausgehen. Er lächelt trübe vor sich hin. Vergebliches Hoffen! In der eleganten Wohnung herrschte um dieselbe Zeit die größte Aufregung. Das zweite Hausmädchen hatte diskret an die Schlafstubentür der gnädigen Frau ge¬ klopft und war mit bestürzten Mienen bis an das Bett herangekommen. Beim Bettmachen hatte sie eben Ger¬ hards Schulmappe in seiner Stube unter dem Kopfkissen versteckt gefunden. „Fräulein rufen!“ schrie Erika scharf auf. „Fräulein sei noch nicht zurück, sie habe Addie zur Schule gebracht und dann die Aufträge der gnädigen Frau gleich in der Stadt ausführen wollen. B. Erika steht mit beiden bloßen Fußen chon auf dem Teppich. Ihre Zähne rasseln aneinander. Sie blickt ratlos das teilneh¬ mende Mädchen an. „Was kann das bedeuten, Lina?“ bringt sie mühsam hervor. Ihre Kehle ist vor Angst zugeschnürt. 3 Das Madchen zuckt die Achsel. Zur Frühstück hat er mitgenommen. Schule wird er wohl nicht sein. Vielleicht was in der Schule passiert und Furcht ge¬ der habt, vielleicht auch vorm Herrn, ist. gegen den Jungen immer so streng Der Junge hat die letzte Woche ja fast gar nichts mehr gegessen und elend aus¬ gesehen. Erikas Herz schlägt wild auf. Das Mädchen hat gesehen, was ihr, der Mut¬ ter, der vielbeschäftigten, verborgen geblie¬ ben, weil sie keine Zeit gehabt für ihre Kinder. „Um Gotteswillen, Lina, was sollen wir tun, dem Herrn telephonieren?“ fragte sie in ratloser Angst. Lina schüttelte den Kopf. Weshalb den Herrn schon ängstigen, vorerst abwarten. Jetzt ist es elf. Sie wird eine Droschke nehmen und zum Gymnasium fahren und aufpassen, wenn die Jungens von Ger¬ hards Klasse herauskommen. „Vielleicht hat er die Mappe auch nur vergessen, will sie trösten und vergißt, wie sie selbst

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