Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1906

34 „Gut,“ sprach der Oberaufseher und zog ein kleines, rotes Buch aus der Tasche. „Jetzt, Nummero Zweihundert und sieben, merke dir diese Verordnun¬ gen: Wenn du einen erfolglosen Flucht¬ versuch machst, so wirst du Prügelstrafe erhalten. Gelingt es dir, bis zum Hafen zu entkommen, und du wirst dann er¬ griffen, so bekommst du auf drei Jahre doppelte Ketten. Sobald man dich ver¬ * mißt, werden drei Kanonenschusse abge¬ feuert und alle Bollwerke mit Alarmn¬ flaggen versehen. An die Seewachen und die Polizei der zehn benachbarten Distrikte werden Signale telegraphiert, und auf deinen Kopf wird ein Preis gesetzt. Pla¬ kate werden an die Tore von Toulon ge¬ heftet und an sämtliche Städte im Lande gesandt. Es ist gesetzlich erlaubt, auf dich zu schießen, wenn es nicht gelingt, dich lebend einzufangen. Als der Oberaufseher mir dies mit grimmiger Ruhe vorgelesen, steckte er das Buch wieder ein und ging, seine Zigarre weiterrauchend, davon. Alles war jetzt aus — vorbei das un¬ gläubige Staunen, die träumerische Be¬ täubung, die verlöschende Hoffnung der drei letzten Tage. Ich war ein Verbrecher und — o Sklaverei in der Sklaverei! mit einem anderen Verbrecher zusammen¬ geschmiedet. Aufblickend sah ich, wie er mich anstarrte. Seine gebräunten, harten und groben Gesichtszüge zeigten gemeine Bosheit, gepaart mit hartnäckiger Wil¬ lenskraft. Er mochte vierzig Jahre zäh¬ len und war nicht viel größer als ich aber von mächtigem Körperbau. „Ihr habt lebenslänglich,“ sprach er, „nicht wahr? Ich auch. „Woher wißt Ihr, daß ich lebens¬ länglich habe?“ fragte ich matt. „Daher.“ Und er berührte meine Mütze unsanft mit der Hand. „Grün lebens länglich, rot eine Reihe von Jahren. Wes¬ wegen seid Ihr hier? „Ich habe gegen die Regierung konspi¬ riert. Er zuckte verächtlich mit den Schultern. „Zum Teufel! Dann seid Ihr wohl ein vornehmer Sträfling! Schade, daß Ihr kein Lager für Euch allein habt — so feine Kame¬ uns armen Forgats sind raden verhaßt.“ „Sind hier viele politische Gefangene?“ fragte ich nach einer kurzen Pause. „Keine in diesem Bezirk. Und als habe er meinen unausgespro¬ chenen Gedanken erraten, fügte er mit einem Fluche hinzu: „Ich bin kein Un¬ chuldiger. Dies ist das viertemal, daß ich hier bin. Habt Ihr jemals etwas von Gasparo gehört? „Von Gasparo, dem Falschmünzer?“ Er nickte. „Der vor drei oder vier Monaten ent¬ 77 flohen ist und „Und den Posten in dem Augenblick, als er Alarm schlagen wollte, über den Wall hinabwarf. Dieser Mann bin ich. Es war mir bekannt, daß er im An¬ . fange seiner Laufbahn zu einer langeren Einzelhaft verurteilt worden und die Zelle als verhärteter und verwegener „ Bosewicht verlassen hatte. Ein Schauder ergriff mich. Er bemerkte es, und ich sah, wie sein tückischer Blick einen rachsüch¬ tigen Ausdruck gewann. Von dem Mo¬ ment an haßte er mich, von diesem Mo¬ ment an verabscheute ich ihn. Eine Glocke ertönte, und ein Trupp Strafgefangener kam von der Arbeit herein. Sofort wurden sie von einer Wache untersucht und paarweise an ein niedriges, schräg abfallendes hölzernes Gerüst gekettet, das von dem einen Ende der Halle bis zum anderen reichte. Jetzt wurde unser Vesperbrot verabfolgt; es bestand aus einem Gericht Bohnen, einer Ration Brot und Schiffszwieback und einem Maß schwachen Weins. Ich trank den Wein, konnte jedoch keinen Bissen essen. Gasparo nahm sich von meiner Ra¬ tion, was ihm beliebte, und die sich zu¬ nächst Befindlichen rissen sich um den Rest. Als das Abendessen vorüber war, schallte ein schrilles Pfeifen durch die Halle. Ein jeder holte seine schmale Ma¬ tratze unter dem langen Gerüst, das unsere gemeinschaftliche Bettstelle bildete, hervor, wickelte sich in eine Seegras¬

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