Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1906

feucht und nebelig um uns her und wir konnten nur noch hin und wieder, wenn die Wolken sich teilten, einen Blick hinabtun. 74 „So, John, nun haben wir unsere Schuldigkeit getan, sagte ich. „Meinst du nicht, daß wir jetzt auch in die Gon¬ del steigen könnten?“ Er hing gerade unten an meinenHän¬ den, und hatte in dieser Stellung schon eine ganze Weile zugebracht. Es schien, als hätte er mich nicht verstanden, und das war kein Wunder, denn die Wolken verdichteten sich dergestalt um uns her, daß selbst die Stimmen der Herren über uns dumpf klangen, und ich in keiner Richtung auch nur einen Schritt um mich her zu sehen vermochte. Ich rief ihn also noch einmal an und wiederholte meine Frage. Er schwieg wiederum, umklammerte aber statt meiner Hände meine Handge¬ lenke, dann ergriff er meine Arme in der Mitte und klomm so allmählich hinan, bis unsere Gesichter beinahe in einer Höhe wvaren. Da hielt er an und ich fühlte seinen heißen Atem an meiner Wange. „William Waldur“, sprach er heiser, „sollte nicht morgen deine Hochzeit sein? Der Ton seiner Stimme und die selt¬ same Frage in dieser düsteren, furcht¬ baren Einsamkeit erfüllten mich mit Ent¬ setzen. Ich versuchte mich seinen Händen zu entwinden, er hielt mich aber zu fest. „Nun, und wenn es wäre?“ fragte ich gleich darauf. „Klammere dich nicht fest an. Willst du dich nicht an der Stange halten und meine Arme loslassen?“ Er stieß ein kurzes, scharfes Gelächter aus, rührte sich aber nicht. „Ich glaube, daß wir uns jetzt in einer Höhe von zweitausend Fuß befinden, agte er, und mir klang es, als ob er etwas zwischen den Zähnen hielt. „Wenn jetzt einer von uns herabstürzte, wäre er eine Leiche, ehe er den Boden erreichte. In diesem Augenblicke hätte ich viel darum gegeben, wenn ich sein Gesicht hätte sehen können, aber mit meinem herabhängenden Kopf und der ganzen Schwere seines Körpers an meinen Ar¬ 27 men hatte ich nicht mehr Kraft als ein Kind. „Was meinst du damit, John?“ fragte ich. „Halte dich an der Stange und ich werde ein Gleiches tun. Mir glüht der Kopf.“ „Siehst du das hier?“ sagte er, faßte meine Arme um einige Zoll höher und sah mir gerade ins Gesicht. „Siehst du das hier?“ Es war ein großes, geöffnetes Taschenmesser, das er zwischen den Zäh¬ nen hielt. Sein Atem schien fast auf der kalten Klinge zu zischen. „Ich kaufte es heute Abend — verbarg und wartete, es in meinem Gürtel — bis die Wolken uns einhüllten und nie¬ mand uns sehen konnte. Jetzt werde ich dich vom Ballon abschneiden. Ich schwor, daß sie nie die Deine werden sollte, und will mein Wort halten. Meine Augen verschleierten sich und mir erschienen alle Gegenstände feuerrot. Ich fühlte, daß ich im nächsten Augen¬ Er blicke die Besinnung verlieren würde. glaubte, daß das bereits der Fall sei, und schwang sich, indem er meine Arme losließ, über mir auf die Stange. Diese Bewegung rettete mich. Unsere Handgelenke waren aneinander gebunden, und so zog er mich mit sich empor, denn mir war so schwach und schwindelig, daß ich mich selber nicht mehr aufzurichten vermochte. Ich sah, wie er sich mit der linken Hand ah ihn das Messer an der Stange hielt, ich fühlte, wie der in die Rechte nehmen, kalte Stahl zwischen seinem und meinem Handgelenk hindurchglitt und dann Und dann erlangte ich in der Auf¬ regung des Augenblicks meine volle Kraft wieder und klammerte mich an das Ge¬ stell, als eben der Riemen los ließ. Wir waren nun getrennt, und ich war noch immer mit einem Fuße an das Trapez befestigt. Er konnte sich nur auf eine Arme und das Messer verlassen. Aber welch harter, entsetzlicher Kampf folgte jetzt, ich denke noch mit Grauen daran. Seine einzige Hoffnung lag nun in der unseligen Waffe, und während er ich mit einer Hand an das Holzgestell

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