Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1904

46 oder in seiner Sprache den abenteuer¬ lichen Pionier, den Goldgräber der „Placer“. Das Bewußtsein seines gei¬ stigen Wertes, die Klarheit seiner An¬ ichten und die Großmut seines Herzens üllten die Lücken seiner ersten Bildung aus. Sein lebhafter Wunsch, die einzige Sorge seines Daseins war, Maud wieder¬ zusehen, Maud, der er durch seine Arbeit und sein umsichtiges Wirken ein großes Vermögen erworben, und der er infolge einer abergläubischen Anschauung sein eigenes Glück zuschrieb. Hatte er nicht für dieses Kind und um ihretwillen auf seine plumpen Ge¬ nüsse, auf den Reiz des Branntweins und des Spieles verzichtet? Hatte er nicht für sie noch mehr als für sich in Los¬ Angeles gearbeitet? Hätte er wohl das Lager verlassen, hätte er Virginia=City verlassen, wäre er hintereinander Gold¬ □ gräber, Werkmeister, Ingenieur, Kapi¬ talist geworden, hätte er Tag für Tag sein und Mauds Vermögen vergrößert, wenn sie nicht gewesen wäre? Was wäre er ohne sie? Und jetzt schrieb man ihm, sein Mündel wäre schön und groß, er könne stolz auf sie sein. Warum sollte sie ihn nicht auf seinen Reisen begleiten? Sie würden zusammen ich Europa ansehen und Maud würde ihm erklären, was er nicht wüßte. Er würde hingehen, wohin sie wollte, er würde ihr Beschützer und Vatersein; er würde sich ihrer jungfräulichen Zu¬ neigung erfreuen, wie er sich ihrer kind¬ lichen Zärtlichkeit erfreut hatte... und dann würde sich Maud eines Tages ... recht spät ... verheiraten. Er würde es so einrichten, daß er in derselben Stadt lebte, um sein Dasein in der Nähe seiner Adoptivtochter beschließen zu können. Denn sie war seine Tochter, sie war alles, was ihm von einer schon fernen Ver¬ gangenheit blieb. Seine in alle Welt zer¬ streuten Gefährten hatten die gemeinsame Arbeit aufgegeben; er hatte sie fortgesetzt und zu gutem Ende geführt. Seine Denk= und Anschauungsweise war die eines älteren Mannes, als er virklich war. Das Leben hatte ihn früh gereift, und das seinige erschien ihm schon ang. Und doch zählte er in Wirklichkeit erst zweiundvierzig Jahre. Wenn die Züge seines Gesichtes, wenn die Stirn¬ falten von beständiger Arbeit und stark angespanntem Willen sprachen, so deu¬ teten die glänzenden, braunen Augen, die dichten, schwarzen Haare noch auf Jugend und ungebrochene Gesundheit. IV. Als er Maud wiedersah, erbebte sein Herz. War das das Kind, das er in den Armen gehalten und auf den Knien geschaukelt hatte? Das war ihr sanfter Blick, ihre süße, einschmeichelnde Stimme, ihre schönen blonden Haare, die sie aber nicht mehr in Locken, sondern in Flechten um ihren feinen Kopf gelegt trug. Wie schön sie ihm erschien! Ihre in Rührung schimmernden Augen suchten die seinen, und in seiner Hand zitterte die schlanke Rechte des jungen Mädchens. „Endlich . .. endlich sind Sie also da nach so vielen Jahren!“ * „Ja gewiß. Sie haben sich nicht ver¬ ändert, lieber Vormund! Ich finde Sie so wieder, wie Sie in meinen Kindes¬ erinnerungn geblieben sind. Ich habe so viel an Sie gedacht!“ „Ich auch, Maud, und ich kann Ihnen nicht sagen, wie glücklich ich bin, Sie wiederzusehen!“ „Und Sie bleiben, nicht wahr? Sie haben mir geschrieben, Sie kämen für immer und würden nicht mehr dorthin zurückkehren. Ich will Sie behalten, lieber Vormund. Ich bedarf Ihrer so sehr, und 77 ... habe nur Sie!“ Sie schwieg und erwartete seine Ant¬ wort. Er hörte sie noch immer, gerührt und entzückt. Ach, was ihm noch zu tun blieb, um sein Werk zu vollenden, war leicht! Schön, wie sie war, reich, wie er sie gemacht hatte, konnte Maud unter den Würdigsten wählen. Doch das eilte nicht; er konnte, er mußte warten und sie zunächst darüber aufklären, welche Ansprüche sie erheben durfte!

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