Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1904

Hader und Streit in der Ehe und nun ein so häßliches Ende! Wer war schuld Sie allein? Hatte er denn immer gerecht und liebevoll gehandelt? War er nie launisch, heftig, reizbar und unduldsam gewesen? Hätte er als Mann nicht der verständigere, maßvollere Teil sein müssen und anstatt mit kalten, herrischen Worten und mit energischen Maßregeln durch i 2 — sanfte, überredende, liebevolle Vorstel¬ lungen auf sie einwirken sollen? Hätte er wirklich seine Autorität als Mann ver¬ letzt, wenn er mehr Nachsicht und Geduld gezeigt hätte? Hatte sie ihn nicht lieb und er sie, und war das nicht die Hauptsache? Hätte nicht die Liebe die Gegensätze zwi¬ schen ihnen aussöhnen und überbrücken müssen? — 35 Der Sinnende zuckte erschreckt zusam¬ men. Er hatte nicht gehört, daß sich die Tür geöffnet hatte. Erst das Räuspern einer weiblichen Stimme und das Rauschen eines schweren Frauenkleides auf dem Parkettfußboden rissen ihn aus seinem Nachdenken. Er schnellte hastig herum. Adele stand ihm gegenüber in Hut und Mantel, fertig zur Reise. 22 8 S 1 h AL — S2 S einem schnellen, scheuen Blick Mit streifte er ihr Gesicht. Wie? Hatte er recht gesehen? Ihre Augenlider waren geröte und geschwollen. Hatte sie geweint? Und es hatte ihm scheinen wollen, als ob statt der mürrischen, trotzigen, finsteren Miene die bei ihr in der letzten Zeit stereotyp gewesen war, ein milder, schmerzlicher Ausdruck ihre Züge beherrscht hatte. Und 24

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