Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1904

18 zeihen; ... sie hätte es ja nur im Zorne getan! ... Wie mannhaft verbiß der kleine Bursche seinen heftigen Schmerz und durch Tränen lächelnd, gab ihr der herzensgute Knabe gleich die Hand zur Verzeihung! Auch hörte sie abermals ein Versprechen, keiner Seele etwas von dem Vorfall zu erzählen! ... Wie hatte dann der ehrenhafte Jugendfreund —Die gräßlichsten Wort gehalten Leiden, die er später wegen des ver¬ schwiegenen Unfalls erdulden mußte, hatten ihn sein Versprechen doch nicht brechen lassen!— Er litt und schwieg! Sie jedoch, die dem kräftigen, schönen, schlank wie eine Tanne gewachsenen Knaben zum Krüppel auf seine ganze Lebenszeit gemacht — wie hatte sie ihm gedankt?!... Gleichzeitig und mit vollster Heftigkeit stürmten herbster Seelen¬ schmerz, bitterste Reue, tiefste Beschä¬ mung, innigstes Mitleid auf sie ein, und sie besaß keine andere Abwehr dagegen als ihre heiße Träne Die Rückkehr der Schwägerin ver¬ — scheuchte sie aus der Wohnstube. In ihrem Seelenzustand mochte sie mit nie¬ —Sie floh mand zusammentreffen. auf den kleinen offenen Gang hinauf wo die Huberbäuerin die von ihr so hoch gerühmten Nelken stehen gesehen. Dort weinte sich Anna aus! ... Dann erst, ohne bestimmten Gedanken, suchte sie die flammendsten Blumen aus, die mit ihrem fast schwarz schattierten Rot halb¬ glühenden Kohlen ähnelten und einte sie Da alles zum prächtigen Strauß! — im Wohnhaus wie ausgestorben schien schlüpfte sie ins Freie. Dort hoffte sie wieder Ruhe und einen Entschluß zu inden! Anna hörte schon das Rauschen des im Tal unweit der Mühle im vielfachen Abfall tosend und schäumend nieder¬ stürzenden Resselbachfalles. Die kühle Luft der Wasser floß beruhigend um ihre heißen Schläfen, dazu umströmte „ sie heilkräftig der balsamische Harzduft des Hochtannes, dessen geheimnisvolles Dunkel, nur hie und da durch gold¬ grüne Sonnenstrahlen durchbrochen, sie mit der Teilnahme eines Vertrauten zu empfangen schien, und das leichte Rau¬ chen in den Wipfeln hörte sich wie grüßender Zuruf alter, treuer Jugend¬ genossen an! ... Jetzt aber mischte sich in den chaoti¬ schen Bergpfaden des Sturzbaches ein anderer Ton. Sie hielt überrascht inne und trat spähend seitwärts vom Weg, der für die Sommerfrischler ziemlich gangbar gemacht worden, ins Gebüsch. Dort vernahm sie den Klang deutlicher und nun waren ihr Sänger und Lied sicht= und hörbar! Unter ihr standen, vorgeschoben wie eine Wache auf dem sammetweichen Gras einer Waldblöße, drei einzelne Tannen gleichsam, als wenn sie verhindern ollten, daß keine Seele den Gottes¬ rieden dieser Waldrast stören sollte! Unter den mittleren Tannen auf dem Stumpfe, wo die vierte gegrünt, saß ein Mann, der mit emsiger Schnitzarbeit beschäftigt war. Neben ihm lag eine Ledertasche mit verschiedenen Werk¬ zeugen, und er vollendete soeben eine Art Blumenvase, die er einem seltsam geformten Wurzelknollen entzauber hatte. Man konnte sie für einen altrömi¬ chen Aschenkrug halten. Nun schien der Künstler fertig zu sein; er bedeckte die Ränder mit Moos und besah die sinn¬ reich zu Henkeln verschlungenen Neben¬ wurzeln seines Werkes mit prüfenden Während seiner Arbeit hatte Blicken. — er, wie man zu tun pflegt, mit halber Stimme gesungen und jetzt schloß er mit verstärktem Tonnfall das alte Jägerlied von den drei Tannen, dem Grabhügel und dem Kreuz darauf! Anna, die kaum dreißig Fuß über Lienhard stand, lauschte mit angehalte¬ nem Atem. Unverwandt ruhte ihr Blick auf ihm, gleich, als wenn er sich in den Zügen dieses männlich schönen Gesichtes mit der feinen Nase, den feurig braunen Augen, dem weichen, reichen Blondhaar und schwermütigen Lächeln und den an¬ mutigen Mund festwurzeln sollte! Darüber vergaß Anna vollständig, daß leider der Körper nicht dem Kopf ent¬

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