Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1904

16 vorgeworfen! Aber g'rad damals war mir so eigen, daß mir die wüste Red raus gefahren ist! Kopfschüttelnd hörte der Vater nun ihrer offenen und wahren Erzählung des ganzen Hergangs zu und meinte zuletzt: Dir „Nur das sag' ich Dir, es wär' g’wiß keine Perle aus Deiner Kron ge¬ allen, wenn Du den ersten Tanz statt mit dem dammischen Sepp, an dem kein gutes Haar ist, mit dem kreuzbraven Lienhard getanzt hättest! Niemand würde auch nur ein bißl über Euch geredet haben, und alle Leute hätten Dich gelobt, statt daß sie Dich jetzt hinterrücks her¬ untermachen!“ „Ja, warum aber gerade nicht bei uns? Warum hätten sie uns beide nicht ver¬ spottet?“ fragte Anna verwundert auf¬ horchend. „Seid Ihr ja doch alte Bekannte! ... Mehr noch, sogar Verwandte, wenn auch weitschichtig!“ „Wie wär' mir das?“ forschte Anna erregt weiter. „Weiß doch ich kein Ster¬ benswörtl davon!“ „Hätt' es nicht g'meint, daß Du alles vergessen hast! Wohl warst Du noch ein kleines Dirndl, so sechs Jahre alt, als ich Dich gleich nach dem Tode meiner guten seligen Frau, Deiner braven Mutter, zu unseren alten Basen nach Grafing gebracht hab'! ... Des Lien¬ hards Vater war Euer nächster Nachbar; da bist Du doch den ganzen Tag drüben in seinem Hof gesteckt und hast mit dem Lienhard gespielt, seinem einzigen Buben! ... Hal hal jetzt geht Dir das richtige Licht auf! Mit dem Worte „Grafing“ tagte es hell in Annas Kindheitserinnerungen! Sie sah ein blumengeschmücktes Stück ihrer ersten Jugendzeit wieder aus dem Schatten der Vergangenheit auftauchen. Sie meinte, sich aufs neue im frohen Spiele mit dem schönen, kräftigen Knaben zu sehen, der so seelenvolle braune Augen hatte, und der stets gern bereit war, alle ihre kindlichen Wünsche zu er¬ füllen! ... Nun erwachten wieder alle die kleinen Erlebnisse jener fernen glück¬ lichen Tage bei dem Mädchen, damit aber auch eine Empfindung, die ihr siedend zum Herzen strömte, und sie schauerte wonnig zusammen, ohne sich für den „ Augenblick dieses Gefühl erklaren zu können! — Nachdem sie sich ein wenig gesammelt hatte, sagte sie halblaut: „Ja! nun weiß ich wieder alles, es ist der Grafinger Lienhard! ... Aber damals war er —“ „Ein g'rades schlankes Bürschchen von elf Jahren!“ fiel der Jochmüller, mit seinem kürzlich fast ganz weiß gewor¬ denen Kopfe nickend, zur Bestätigung ein! ... „Du magst etwa ein halb' Jahr wieder daheim gewesen sein, da ist sein Gebrest plötzlich über ihn gekommen. Beim Spielen hatte ihn etliche Zeit zuvor ein Kind mutwillig vom Heuboden in einen Wagen mit einer noch halb geladenen Fuhr geworfen, da ist er aber unglück¬ licherweise mit dem Rücken auf den Stiel einer im Heu versteckten Heugabel ge¬ fallen! Erst, wie's schon zu spät gewesen, hat er, was ihm damals begegnet, ein¬ gestanden! Wer ihm aber den bösen Stoß gegeben und dadurch den ganzen Jammer, der über den wackeren Lienhard gekommen ist, verschuldet hat — das hat er in seiner Gutheit verschwiegen!“ Der Müller hielt inne ... Wohl harrte er einer Entgegnung ... Anna jedoch konnte nichts erwidern! Sie hatte ihr Gesicht ans Fenster gedrückt und zit¬ terte in höchster Erregung! ... Ohne daß ihr Vater etwas davon bemerkte, fuhr er gleich darauf fort: „Wie ihm der Unfall zugestoßen war, konnte er auch nichts mehr mit der Bauernarbeit an¬ fangen. So haben denn die bekümmerten Eltern ihren Einzigen, das arme Bürsch¬ chen, in die Münchenerstadt getan! Dort hat er auch was Rechtschaffenes ge¬ lernt! ... Es steckte aber zu viel Bauernblut in ihm und er mochte nicht alleweil dort bleiben! Drum verkaufte er nach dem Tod seiner Eltern ihr An¬ wesen in Grafing, und ist zu uns am Kochelsee herausgekommen! Denn Du mußt wissen, daß sein Urgroßvater und der Deine Brüder waren, und der

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