Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1903

80 ordentlichen öffentlichen Professor für Rechts¬ philosophie und Völkerrecht. Mit August Pulszky ist ein vielseitiger Gelehrter, ein geistreicher Mann und ein durch und durch liberaler Po¬ litiker dahingegangen. —Am 23. März 1902 verschied zu Budapest Koloman Tisza—ein Herzschlag hatte seinem Leben ein Ende ge macht. Ungarn verlor in ihm einen seiner her¬ vorragendsten Staatsmänner, der jahrelang an der Spitze der Regierung stand, einen Politiker nicht unebenbürtig den besten der Nation, einer Parlamentarier, dessen Name europäischen Klang hat. Fünfzehn Jahre lang klang der Name des Oppositionsführers Koloman Tisza wie ein Heroldruf durch das ungarische Land, fünfzehr weitere Jahre lang führte Tisza die Geschäft des ungarischen Staates, er hat die Cultur¬ Desider Szilagyi. arbeit in seinem Vaterlande mächtig gefördert und als Ministerpräsident wie als Finanz¬ minister für das wirthschaftliche Aufblühen Un¬ garns seine Krast eingesetzt. Daß der Libera¬ lismus in diesem Staate das leitende Princip geblieben ist, ist Tisza's Verdienst. Als er aus dem Amte schied, und seit zwölf Jahren als einfacher Streiter der liberalen Idee in den Reihen stand, war er nicht minder thätig in der Abwehr aller reactionären Richtungen und Spielarten. Koloman Tisza v. Borosjeno wurde am 10. December 1830 in der Gemeinde Geszt des Biharer Comitates geboren. Er entstammte einer alten Adelsfamilie, deren Mitglieder seit dem 17. Jahrhundert eine hervorragende Rolle in der Geschichte Ungarns und der calvinischen Kirche spielten. Als man im Frühling 1861 in Ungarn an Stelle der österreichischen Kreis¬ hauptmänner ungarische Patrioten zu Ober¬ gespänen ernannte, befand sich auch Koloman Tisza unter den Erwählten. Er lehnte jedock die Ernennung ab und wurde sohin vom ersten Bezirk der Stadt Debreczin in das Abgeord¬ netenhaus des ungarischen Reichstages entsen¬ det. Hier schloß sich Tisza der unter Führung Ladislaus Teleki's stehenden Linken an, deren Führung nach dem Tode Teleki's auf ihn über¬ zieng, während Franz Deak Führer der Rechten war. Nach dem Provisorium 1861 bis 1865 wurde Tisza von demselben Wahlbezirke in das auf den 10. September 1865 einberufene Ab¬ geordnetenhaus gewählt, wo er mit Koloman Ghyczy Führer des linken Centrums wurde Tisza kämpfte nun mit dem ganzen Aufgebot eines Rednertalentes gegen den Ausgleich mit Cisleithanien und die Deak=Partei und machte der Regierung jahrelang die erbittertste Opposition. Dies blieb so unter dem ersten verfassungsmäßigen Ministerium Andrassy, wie unter den Ministerien Lonyay und Szlavy und erst als auch das Mini¬ terium Bitto in welchen der frühere Oppositions college Tisza's Ghiczy, als Finanzminister saß, zurücktrat, gab auch Tisza seine Oppositions¬ stellung auf, um als Minister des Innern in ein Coalitionsministerium unter Baron Wenck¬ heim einzutreten. Die eigentliche Seele dieses — Ministeriums war Tisza. Nur vom 2. März bis zum 20. October 1875 blieb Wenckheim auf dem Posten des Ministerpräsidenten, dann machte ea auch äußerlich Tisza Platz.Von dieser Zeit an leitete Tiszadurch fünfzehn Jahre die Ge¬ chicke Ungarns, gestützt auf die liberale Partei welche aus der Vereinigung der Deäk=Partei und des linken Centrums entstanden war. Wiederholte Conflicte mit den Oppositions¬ parteien und kleinere Mißverständnisse mit der eigenen Partei veranlaßten Tisza seine Demis¬ sion zu geben welche er dem Abgeordnetenhause in der Sitzun vom 13. März 1900 zur Kenntniß brachte. Am Abend desselben Tages verab¬ schiedete er ich auch schon von der liberalen Partei, deren Gefühle dann Moriz Jokai ver¬ dolmetschte. So zog sich denn der „General wie man Tisza nannte, weil er die Di¬ sciplin der Regierungspartei so meisterhaft auf¬ — rechtzuhalten wußte nach fünfzehnjährigen egensreicher Thätigkeit von der Regierung zurück und wurde ein einfacher Combattant in der Reihe Derjenigen, deren Führer er bis da¬ hin gewesen. Deutschland. Das Berichtsjahr hat in die Reihe der regierenden Fürsten des Deutschen Reiches eine Lücke gerissen, die auch wir Oesterreicher schmerz¬ lich empfinden müssen. Am 19. Juni 1902 ist auf seinem Lustschlosse Sibyllenort in Preußisch¬ Schlesien König Albert von Sachsen sanft und ruhig entschlafen. Sein Land verlor an ihm einen Herrscher von mildem, gerechtem und constitutionellem Sinne, das Deutsche Reich einen

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