Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1902

seit dem am 21. Juni 1900 erfolgten Tode des russischen Ministers des Aeußern Grafen Mu rawiew mit der zeitweisen Leitung des Mini¬ steriums des Aeußern betraute Graf Lams¬ dorff wurde Anfangs August 1900 zum Ver¬ weser dieses Ministeriums und im Jänner 190 definitiv zum Minister des Aeußern ernannt. Im Laufe der Berichtsperiode fanden in verschiedenen Universitätsstädten Rußlands (so in Petersburg, Moskau, Kiew, Odessa und Charkow) wiederholt mehr oder minder schwere Studentenunruhen statt, die zum Theile revolu tionären Charakter annahmen, blutig unter drückt werden mußten und zu zahlreichen Re legirungen, Abschiebungen, Verhaftungen, straf¬ weisen Einreihungen zum Militär 2c. führten. Wie chwer diese Unruhen sich z. B. im März ge¬ talteten, geht aus einer Mittheilung des „Peters¬ bürger Regierungsboten“ hervor, nach welcher in der Zeit vom 4. bis 20. März 1901 mehrfache Kämpfe stattfanden, wobei, abgesehen von Todten und Schwerverwundeten, die es auf beiden Seiten (Studenten und Polizei) gab, in Petersburg 1064 Studenten, Studentinnen und andere Personen, in Charkow 136, in Moskau aber 1060 Personen verhaftet wurden. Am 24. März gesellten sich in Petersburg zu den demonstrirenden Studenten auch die Arbeiter; 800 derselben ammelten sich auf dem Newskiprospect und rückten, revolutionäre Lieder singend, gegen den Winterpalast vor. Auch hier schritt das Milität ein, wobei sich die Kosaken durch besondere Bru¬ talität auszeichneten und es auf beiden Seiten viele Todte gab. Der Anfangs April zum Unterrichtsminister ernannte Generaladjutant Wannowsky bemühte sich zwar, einen großen Theil der über die Studentenschaft verhängten Strafen zu mildern, oder ganz zu beseitigen (so auck zum Theile die zwangsweise Verhaltung zum Militärdienste) und den Studentenunruhen wenig¬ stens theilweise ihren revolutionären Charakter zu nehmen, aber charakteristisch für die inneren Zu¬ stände Rußlands bleiben die letzteren doch Nach einer Kundmachung im „Zerkownia Wiedomosti“ vom 9. März hat der „heilige Synod“ den Grafen Leo Tolstoj ob seiner „antichristlichen und antikirchlichen Irrlehren“ in Bann gethan. Es ist wohl richtig, daß Gra Leo Tolstoj wenig gethan hat, um sich die Sympathien der russischen Hierarchie zu sichern aber da er sich selbst laut oberwähnter Kund¬ machung „von jeder Gemeinschaft mit der ortho¬ doxen Kirche losgesagt hat, so dürfte der kühne Denker und Dichter zwischen seiner früheren und seiner jetzigen Stellung keine erschütternde Gefühlsdifferenz fühlen. Die Folge dieser Ex¬ communication war übrigens ein allerdings fehlgeschlagenes Attentat auf den eigentlichen Urheber des Bannspruches, auf Pobiedonoszeff Auch in der vorliegenden Berichtsperiode haben jene Maßregeln der russischen Regierung welche Finnland und sein wackeres Volk seiner 87 Selbständigkeit — seiner Sprache, seiner ver¬ brieften Rechte — verlustig machen sollen, wieder eine Fortsetzung erfahren. Der finnländische Senat hatte sich geweigert, den von uns in dem vorjährigen Berichte erwähnten kaiserlichen Erlaß, betreffend die Einführung der russischen Sprache als officielle Sprache Finnlands, zu veröffent¬ lichen, und diese Weigerung damit motivirt, daß ieser Erlaß der Verfassung Finnlands wider¬ spreche, überdies sprächen von den 3,700.000 Bewohnern Finnlands nur 7000 russisch. Nach¬ — wohl einem höheren Drucke folgend, dem Finn¬ resp. um sich an der Russificirung 12 Sena¬ ands nicht mitschuldig zu machen publicirte toren ihr Amt niedergelegt hatten, das ob¬ der Rumpfsenat am 6. Juli 1900 erwähnte kaiserliche Edict. — Eine im September 1900 erlassene kaiserliche Verordnung bestimmte daß der erste Entwurf zu Vorschlägen, betreffend mehrere — die Russificirung der Verwaltung Finn lands bezweckende — Aenderungen des Reglements des Senates, sowie der Instructionen für den Generalgouverneur von Finnland von dem im April 1899 in der Reichskanzlei eingesetzten Comité zur Systematisirung der Grundgesetze Finnlands ehandelt werden solle. Am 5. Februar entstand in den Lagern der Kaspisch=Schwarz=Meer=Gesellschaft (Roth¬ child), welche sechs Millionen Pud Petroleum enthielten, ein Brand, der bald auf drei andere Lager mit 12 Millionen Pud Petroleum über griff. Das brennende Naphtha überschwemmte die Arbeiterwohnungen. Bei der schrecklichen Kata¬ strophe kamen viele Personen ums Leben. Der angerichtete Schaden betrug mehr als sochs Mil¬ lionen Rubel. Skandinavien. Am 12. September 1900 demissionirte der schwedische Staatsminister Boström, und zwar ausschließlich aus Gesundheitsrücksichten, nachdem er seine Stellung als Chef des Ministeriums neun Jahre auf glänzende Weise ausgefüllt hat. Seinen hochbedeutenden staatsmännischen Eigen¬ chaften, seiner klugen Energie und dem Ver¬ dem rauen, das er bei seinem Monarchen und seine Reichstag genossen, verdankt Schweden indu¬ außerordentliche Entwicklung auf allen triellen und materiellen Gebieten und der Staat eine jetzt mehr als je blühenden Finanzen. Als Nachfolger Boström's wurde Admiral v. Otter ernannt. Am 1 Jänner 1901 starb in Kopenhagen der am 8. Mai 1837 zu Ringsted geborene dänische Dichter Sophus Schandorph (richtig Skamdrup). Von seinen zahlreichen Romanen ist besonders „Poet og Junker“ hervorzuheben Schandorph war ein vorzüglicher Humorist und schilderte mit Vorliebe das Leben und Treiben der Kleinstädter.

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