Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1901

Tage das Schicksal des Ministeriums Thun bereits entschieden war. Dasselbe hatte nämlich an diesem Tage um 10 Uhr Vormittags dem Monarchen seine Gesammtdemission überreicht und war dieselbe vom Kaiser sofort angenommen worden. Am selben Tage veröffentlichten die Amtsblätter in Wien und Budapest als letztes Geschenk des gestürzten Ministeriums an die Völker Oesterreichs eine weitere Serie von Aus¬ gleichsverordnungen, resp. Gesetzen über das Zoll= und Handelsbündniß mit Ungarn, die gänz¬ liche Einlösung der Staatsnoten, die Einführung der Kronenwährung als Landeswährung, die Verlängerung des Privilegs der Oesterreichisch¬ ungarischen Bank und die Ordnung der 80 Mil¬ lionenschuld. Die Rechte versuchte es nunmehr, die Elemer Graf Tonyay. Berufung eines ihr genehmen Ministeriums unter derLeitung des Fürsten Alfred Liechten¬ tein durchzusetzen, aber auch dieser Versuck scheiterte an der feststehenden und auch in wieder¬ holten späteren Conferenzen mit den Partei¬ führern des Abgeordnetenhauses klar betonter Anschauung des Monarchen, daß bei der herr¬ chenden parlamentarischen Constellation nur ein neutrales Beamtenministerium Existenzberechti¬ gung habe. So erfolgte denn auch am 2. Oc¬ tober 1899 die Berufung eines solchen Mini¬ teriums, mit dessen provisorischem Vorsitze der gleichzeitig zum Ackerbauminister ernannte Statt¬ halter in Steiermark, Manfred Graf Clary¬ Aldringen, betraut wurde. Gleichzeitig wurden Graf Welsersheimb zum Landesvertheidi gungsminister, Dr. R. v. Wittek zum Eisen¬ 67 bahnminister, Dr. v. Koerber zum Minister des Innern, Dr. R. v. Kindinger zum Justiz¬ minister und Dr. R. v. Chlendowski zum Minister ohne Portefeuille ernannt, während die Sectionschefs Dr. R. v. Hartel, Dr. Stibral und Dr. R. v. Kniaziolucki mit der Leitung der Ministerien für Cultus und Unterricht, Handel, resp. Finanzen betraut wurden. Der Sturz des Ministeriums Thun=Kaizl, welchem die Berufung des Freiherrn v. Chlumecky an das kaiserliche Hoflager vorausgegangen war, hatte zum so und so vielten Male den Beweis erbracht, daß in Oesterreich auf die Länge der Zeit ohne oder gar gegen die Deutschen nicht regiert werden könne und so war es selbstver¬ tändlich, daß als erste und oberste Aufgabe 2 Kronprinzessin-Witwe Stephanie. des neuen Ministeriums die Befriedigung des obersten Postulates der Deutschen, die Aufhebung der Sprachenverordnungen, zu gelten hatte. Als weitere Aufgaben waren diesem Ministerium zugedacht: die Einbringung eines Sprachen¬ gesetzes, die Sorge für die ordnungsgemäße Wahl der Delegationen sowie der Quoten¬ deputation, die Ausarbeitung der durch die Elementarereignisse dringend gewordenen Noth¬ tandsvorlagen und die Durchführung der Be¬ timmungen des Ueberweisungsverkehres mit Ungarn. Um der neuen Situation auch in parla¬ mentarischer Beziehung Rechnung zu tragen und insbesondere die neue Besetzung des Präsidiums des Abgeordnetenhauses zu ermöglichen, wurde am 8. October 1899 die fünfzehnte Session des Reichsrathes geschlossen und am 9. October der 334

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