Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1901

24 Weihnachtsmorgen! Philipp Jansen und seine Frau haben sich eben von Kaffeetisch erhoben, und während sic fortgeht, um für die Kirche Toilettezu machen, schaut er zum Fenster hinaus in's Freie, wo während der Nacht Alles mit einer dichten Schneedecke überzogen wurde. Auf dem Fensterbrett sitzen ein paar Meisen und picken zwitschernd die Krumen auf, die ihnen Frau Anni vor¬ sorglich ausgestreut hat. In die fest¬ tägliche Ruhe, die draußen herrscht, tönt feierlich das Glockengeläute der naher Kirche —echte Weihnachtsstimmung. Auch Philipp Jansen war in fröh¬ lichster Festesstimmung. Er hattesich allmälig gewöhnt an den unerwarteter Glückswechsel, und es war ihm klar ge worden, daß es auch für einen Menschen, der mit Wenigem auszukommen gewöhnt ist, sehr schätzenswerth sein kann, wenn sein Einkommen sich auf einmal mehr als verdoppelt. Doch höher als der materielle Gewinn stand ihm immer noch das Bewußtsein, daß treue Pflichter¬ füllung ihm diese Anerkennung verschafft hatte, der er sich gewiß alle Zeit würdig zeigen wollte. Während er so in Gedanken ver¬ unken aus dem Fenster schaute, sah er plötzlich einen Wagen vorfahren und war im höchsten Grade überrascht, als er zu¬ nächst seine beiden Chefs, dann Herrn Holdheim und schließlich einen ihm un¬ bekannten Mann aussteigen sah. Was ir aller Welt mochten dieselben am Weih¬ nachtsmorgen zu so früher Stunde bei ihm wollen? Doch er hatte nicht lange Zeit, darüber nachzudenken,sondern mußte gehen und die Herren empfangen „Sie sind jedenfalls sehr überrascht, lieber Jansen, uns zu dieser Stunde be Ihnen zu sehen,“ begann Herr Eisfeld nachdem er den bisherigen Buchhalter begrüßt hatte. „Sie werden die Ver¬ anlassung gleich erfahren, sie ist leide sehr unerfreulicher Natur. Dies ist Herr Polizeiinspector Werner,“ fuhr er fort indem er den Fremden vorstellte, der den über die Maßen erstaunten und verwirrten Jansen scharf beobachtete. Als der Besuch in Jansen's Zimmer Platz genommen hatte, begann Herr Eisfeld wieder „Das Weihnachtsfest hat uns leider eine sehr unangenehme Ueberraschung ge¬ bracht. Aus unserem Kassenschrank wurde uns eine größere Summe entwendet. „Mein Gott, wie ist das möglich?“ fiel Jansen erschreckt ein. „Es war leider sehr leicht möglich, da Herr Holdheim die große Unvor¬ sichtigkeit begangen hatte, den Schrank vor dem Verlassen des Comptoirs nicht zu verschließen.“ „Aber welch' ein seltsamer Zufall, daß gerade gestern Jemand den Ge¬ danken hatte, bei uns einzubrechen,“ sagte Jansen. „Es konnte doch Niemand von diesem Umstande Kenntniß haben.“ „Sehr seltsam, allerdings!“ meinte Herr Eisfeld. „Sie werden sich aber noch mehr wundern, wenn Sie hören daß überhaupt kein Einbruch begangen ist; es fehlen alle Spuren eines solchen. Der Dieb mußte sich schon durch eine Thürritze Eingang in das Comptoir ver¬ schafft haben, denn die Thüren waren alle wohl verschlossen.“ Aber, mein Gott, wer soll den Diebstahl denn begangen haben. Wie ist derselbe heute überhaupt entdeckt worden, wo doch Niemand auf dem Comptoir an¬ wesend war?“ fragte Jansen, dem die Geschichte immer wunderbarer vorkam „Herr Holdheim vermißte erst heute Morgen in der Frühe den Schlüssel zum Geldschrank und eilte infolge dessen chleunigst zum Comptoir. Er fand die Thür des Schrankes fest angelehnt und den Schlüssel darin steckend. War es nicht so, Holdheim? „Ganz recht, Herr Eisfeld,“ erwiderte der Angeredete. „Ich wollte schon den Schrank schließen und wieder fortgehen als mir einfiel, es sei besser, mich erst zu überzeugen, daß der Inhalt des Schrankes unberührt sei. Da entdeckte ich denn zu meinem Schrecken, daß ein Päckchen von großen Scheinen im Be¬

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