Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1897

24 25 ihrer Mutter, die dem einzigen Kinde Alles gewährten, was in ihren Kräften stand. Alljährlich nahm der Vater sein Töchterchen auf wenige Tage in die Hauptstadt mit, und wenn sie dann zurückkam, dann fand sie das kleine Städtchen so armselig, so öde, so langweilig. Allerdings bot der Heimatort auch nicht viel Interessantes für ein junges Mädchen. Im Sommer, da ging's noch an, aber im Winter, wenn der Schnee fußhoch lag, da war es entsetzlich langweilig. Manchmal lief man auf der Theiß mit Schlittschuhen, aber auch das kann monoton werden, oder man ging einmal in der Woche ins Casino, wo die Beamten zusammenkamen und spielten, während die Frauen kleinstädtischen Tratsch pflegten. Von der Hauptstadt aber brachten die Zeitungen immer so viel Neues und Interessantes, dort gab es ein ganz anderes Leben. Wirkliche Freundinnen hatte Lina nicht, auch schwärmte sie nicht für den freundschaftlichen Verkehr und so bildeten denn Bücher die einzige Zerstreuung des jungen Mädchens, denen sie allerdings ihre Gemüthsvertiefung verdankte. Tagtäglich schrieb sie an die städtische Leihbibliothek um neue Sendungen und lernte so als anregende Lektüre die Classiker und Dichter kennen. So war Lina Waldherr 17 Jahre alt geworden, ein Alter, in dem ein Mädchen bereits verständig genug ist, an eiueZukunft zu denken. Der Vater war schon betagt, und wenn er in Pension ging, dann blieb seiner Familie eine armselige Existenz; das Mädchen also, dem solcherart der Ernst des Lebens sich aufdrängte, mußte an die Zukunft denken, insbesondere da die Mutter weder selbst irgend einen Nebendienst hatte, noch das Töchterchen etwas davon verstand, Geld zu verdienen. Das hätte sich aber Alles mit einem Schlage ändern lassen, wenn Lina Waldherr die ihr angebotene Hand des Gutsbesitzers Ketty angenommen hätte. Er war zwar schon ein älterer Herr, aber immerhin noch stattlich und vor Allem sehr reich. Fräulein Lina sand aber wenig Gefallen an dem alternden Herrn, der ihr zu liebe seinen grauen Schnurrbart immer martialisch wichste, und lehnte nach kurzem Bedenken ab. Die Eltern hatten für die Tochter auch nicht ein Wort des Vorwurfs, denn Fräulein Lina hatte Recht, sie konnte warten, es mußten Freier kommen, die ihr lieber waren. Lina Waldherr war zur herrlichsten Jungfrau erblüht, sie war eine seltene Schönheit; ihre Augen waren tiefdunkel und von herrlichen Wimpern beschattet, ihr dunkles Haar hatte einen eigenthümlichen bläulichen Glanz und ihr ganzes Gesicht den Zug der unbefangensten kindlichsten Anmuth. Aber ihre Hanptzierde war ihre unvergleichlich schöne Gestalt, eine hohe schlanke Figur, die einer gewissen Fülle nicht entbehrte; ihre schmale Taille, ihr prachtvoll modellirter Arm, das waren Vorzüge, die zu sehr ins Auge fielen, um beachtet zu bleiben. Lina Waldherr wußte es, daß sie schön sei, aber sie fand nichts Außerordentliches daran und das machte sie umso schöner. Die Jugend des Städtchens lag ihr zu Füßen, aber sie machte sich nichts daraus, sie wurde stolz, daß man sie als Schönste pries und ihre Tugenden, ihre Geisteseigenschaften lobte. Unter den vielen, die die schöne Lina unabsichtlich in ihren Banden gefesselt hielt, befand sich auch Gottfried Bergmann, der seit einem halben Jahre im städtischen Amte als Untergebener ihres Vaters arbeitete. Der junge vier- undzwanzigjährige Mann wurde im Hause seines Vorgesetzten gern gesehen, er war von außergewöhnlicher Bescheidenheit und rechnete es sich zum größten Glücke au, bei Waldherr verkehren zu dürfen. Gottfried Bergmann war sehr arm, er unterstützte von seinem kargen Gehalte noch seine Familie. Zu seinem Unglücke verliebte er sich in die schöne Lina und seit dieser Zeit war er umso stillschweigender. Er sah die Aussichtslosigkeit seiner Liebe ein, er war ein armer Teufel, wie konnte er mir daran denken, ein Weib zu erringen — und doch dachte er daran, den» die Liebe hat die gute Eigenschaft, Alles vergesfen zu machen und selbst das Ungewöhnlichste möglich erscheinen zu lassen. In zartsinnigster Weise gab er ihr seine Liebe zu erkennen, seine Verhältnisse gestatteten es ihm nicht, der Verehrten kostbare Geschenke zu bringen, aber das Lied, die Strophe, ist ein Präsent, das für den Aermsten nicht zu theuer ist, und, so widmete denn Gottfried mit viel Geschick seiner Angebeteten eine Anzahl vvn Gedichten, die diese mit Vergnügen las, hatte sie doch tiefes Verständniß für die Schönheiten der Poesie. Nach und nach gewann sie den bescheidenen Gottfried lieb, und wenn man ihr Gefühl für ihm auch nicht mit dem Worte „Liebe" bezeichnen darf, so zog sie ihn doch allen Anderen vor, und hegte warme Freundschaft für ihn. Wer weiß, was noch daraus geworden wäre, wenn der Zufall nicht mit mächtiger Hand in das Geschick eingegriffen hätte, und zwar durch die Veranlassuug Gottfried's, der diese Veranlassung nachträglich zehntausendfach verwünschte. Gottfried Bergmann hatte für diesen Tag ein kleines Gelegenheitslustspiel geschrieben. Ein Mädchen wünscht sich alles Schöne von dem Heiligen, und in der That bringt er ihr auch den Geliebten nach langer Trennung unversehrt zurück, das Schönste, was sie nur verlangen konnte. Lina Waldherr hatte die Hauptrolle darin zu spielen und Gottfried übernahm die Rolle des St. Nikolaus, der sich als der Geliebte entpuppte. Man hatte für diese Vorstellung alles Mögliche ausgewendet, der kleine Saal im Easino wurde zum Theater gemacht und das ganze Städtchen zu Gast geladen. Der Vorstellung wohnte auch ein Schauspieler bei, der an einem größeren Theater engagirt war und als Gast des Stadthauptmannes im Städtchen weilte. Man unterhielt sich sehr gut, es wurde viel gelacht, uud für die Darsteller fiel reichlicher Beifall ab. Nach der Vorstellung fand Lina ihre Eltern im engsten Gespräche mit dem Schauspieler, der ihnen versicherte, in Lina stecke ein gewaltiges Talent, es sei ewig Sünde, daß sie sich nicht diesem Berufe zuwende. Liua selbst horcht erst.ungläubig auf die Lobsprüche, endlich aber ging es ihr ein, und von dieser Sekunde an tauchten neue Begriffe in ihr auf. Noch am selben Abend theilte sie ihrem besten Freund die Neuigkeit mit, aber Gottfried nahm die Sache von viel ernsterer Seite. Er rieth ihr entschieden ab, in den Worten des Schauspielers mehr als ein bloßes Compliment ersehen zu wollen. Bei dieser Gelegenheit ereiferte er sich ungemein, sie waren allein in einem kleinen Nebenzimmer, er preßte die Hand der schönen Lina an seine Lippen; da sie sie ihm überließ, sprach er zum ersten Male von seiner Liebe, seiner glühend heißen Verehrung für sie, und wie er ohne sie nicht leben könne! Das schöne Mädchen hörte ihm ruhig zu, dann sprach sie in vernünftigen Worten aus, daß er ihr werth sei, daß aber unter den Verhältnissen, in denen sie Beide lebten, eine Verbindung vorläufig nicht möglich sei. Aber Gottfried war kühn geworden: „Fräulein Lina, sagen Sie mir nur, daß Sie mich wieder lieben, daß ich auf Ihre Neigung bauen kaun, das soll mir neue Hoffnung und Stärke verleihen, ich will arbeiten Tag und Nacht, es schweben mir hohe Ziele vor Augen, um Sie zu erreiche«. Es können vielleicht Jahre darüber vergehen, aber der Glaube, daß für mich ein Herz in Treue schlägt, wird meinen Muth stählen und ich werde siegen! Es ist heute St. Nikolaus; als Kinder glaubten wir, der Heilige brächte uns zur Belohnung für unsere Bravheit Geschenke. O, Fräulein Lina, angebetetes- Mädchen, darf ich Ihnen mein Herz zum Geschenke anbieten? Nehmen Sie es als ein Geschenk des heiligen Nikolaus an, schlagen Sie es nicht aus! Achten Sie mich nicht gering, Lina, ich fühle in mir ein starkes Talent; wenn mir das Glück günstig sein wird, hoffe ich in Kurzem aus meiner engen Bahn zu treten,

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2