Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1896

52 quemen Wagen der kühn aufwärts fahrenden Seilbahn, ein leichter Ruck, und langsam gleitet der Wagen schrägaufwärts. In einer halben Stunde ist der Gipfel er¬ reicht, und es öffnet sich eine wunderbar schöne Aussicht rings auf das üppige grüne Land, auf den blauen, vielgewun¬ denen See, die Berge, die ihn schroff ab¬ steigend umgeben, mit den Hunderten selt¬ samer malerischer Felsennester, deren hohe Campanila leuchtend weiß herüber schauen, und ferner auf die Hochalpen, den Monte Rosa und seine Gletscherwände, das Matterhorn, die Mischabelhörner und viele andere jener Riesen, die seit einer halben Ewigkeit immer Schnee und Eis auf ihren Häuptern getragen haben. Die Damen erfreuten sich des pracht¬ vollen Rundblickes und verließen erst nack einer Stunde den Gipfel. Aber der Aus¬ flug, so schön er war, sollte für die Gräfin schlimme Folgen haben. In ihrer Freude an der schönen Natur, die einen da oben umgibt und in die man bewundernd hinab¬ schaut, hatte die Gräfin, ohne Rücksicht aus ihren leidenden Zustand, sich im Freien niedergelassen und sich eine Erkältung zu gezogen, die bei ihrem Leiden schnell ein bedrohliches Wesen annahm. Nach zwei Tagen heftigen Fiebers hatte der behandelnde Arzt der Comtesse Margot den Wunsch ausgedrückt, einen zweiten Specialisten hinzuziehen zu dürfen, da die Krankheit, wie er nicht verbergen könne sich besonders verwickelt zeige. „Ich wüßte,“ so fügte er hinzu, „für diesen kritischen Fall keinen besseren Mit¬ helfer mir zu nehmen, als Doctor Campioni, den Director der Heilanstalt in Melide denn mein junger College hat stets große Umsicht gezeigt, hat viel Erfahrung und noch mehr, nämlich die glänzendsten Er¬ folge. Comtesse Margot hatte den Namen und das Lob kaum vernommen, als sie er¬ bleichend ausrief: 7 „Lieber alle anderen, als diesen. die Sind doch absonderliche Dinger, Weiber,“ dachte der Arzt. „Was ist's nun wieder mit dem Campioni? Er ist doch ein prächtiger Kerl und ein schöner Mann dazu, man sollte meinen* * „Ich habe kein Vertrauen zu ihm, man hat mir von ihm mehrfache, ganz be¬ dauerliche Mißgriffe in seinen Curen er¬ zählt.“ Comtesse Margot log, und dieses Be¬ wußtsein trieb ihr das Roth in die Wangen. „Gräfin,“ mahnte der Arzt, „ich kann Ihnen nur als Fachmann mein Urtheil als maßgebend bezeichnen, das, glaube ich, über allen solchen Redereien steht, die fast immer an einen berühmten Mann sich knüpfen. Ich bitte um die Erlaubniß, den Dr. Campioni sofort rufen zu lassen. Es handelt sich um das Leben Ihrer Frau Mutter, und da ich diese Verantwortung allein nicht zu übernehmen vermag, ziehe ich im Falle einer weiteren Weigerung vor, selbst zu gehen .. . „Nein, o nein!“ rief Margot, auf's höchste erschrocken. „Ach, ist es denn so schlimm mit Mama? „Sehr schlimm, gnädiges Fräulein!“ Vor diesem Worte verschwand jeder Widerstand. Der gräfliche Wagen wurde abgesandt, und in einer Stunde war Dr. Campioni in der Villa Washington. Die Berathung der beiden Aerzte währte nicht lange. Eine sehr heftige und bös¬ artige Lungenentzündung war eingetreten, das Fieber sehr stark, und vor einer Stunde hatte die Gräfin bereits das Be¬ wußtsein verloren. War es noch möglich, sie aus diesem Zustande zu erretten? Ein paar schwere Tage vergingen. Dr. Campioni hielt mit seinem Collegen die Nachtwache bei der Kranken, Comtesse Margot saß mit roth¬ geweinten Augen am Bette und hielt die Hand der Mutter in der ihren, was der Leidenden Beruhigung brachte. Wenn sie in ihrer Angst einen fragenden Blick auf den jungen Arzt richtete, so gab er wohl mit einem kurzen Satze Antwort, höflich, bestimmt und klar, aber er richtete niemals das Wort an sie. O, wie sie sich vor diesen schwarzen Augen fürchtete. Wie schrecklich hatte er sie

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