Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1894

92 93 London die Hochzeit des Herzogs von Jork, des präsumtiven Thronfolgers von Großbritannien und Irland mit der Prinzessin Mary von Teck statt. Durch diese Heirat fühlt sich das englische Nationalbewußtsein ungemein geschmeichelt. War es doch eine Engländerin, die der künftige Herrscher heimführte, nicht eine fremde Prinzessin. Bekanntlich war Prinzessin Mary — wie sie in England genannt wird — zuerst mit dem verstorbenen älteren Bruder ihres jetzigen Gatten verlobt. Fürstliche Gäste in großer Zahl fanden sich zu der glänzenden Hochzeitsfeier ein, unter ihnen Kaiser Wilhelm und der König von Dänemark, und ganz London nahm an den Feierlichkeiten theil. Belgien und Kossand. Belgien und Holland hatte ein reich bewegtes Jahr hinter sich. Begonnen hat es mit der Schwurgerichtsverhandlung gegenM o i n e a u, Wolffe und vierzehn Genossen, welche beschuldigt waren, in der Zeit vom März bis Mai wiederholtDynamit-Attentate unternommen zu haben. Das Urtheil, das am 26. Juli gefällt wurde, verurtheilte Moineau zu 23 Jahren Kerkers. Wolffe und Beaujlan zu je 20 Jahren Kerkers. Die Anderen wurden theils zu geringen Freiheitsstrafen verurtheilt, theils freigesprochen. Anfang August brach in Antwerpen d:e Cholera aus, ohne jedoch sehr große Ausdehnung und Intensität zn gewinnen. Am 13. November' fand in Lüttich ein anarchistisches Attentat statt. Der Millionär Fresard wurde in seiner Wohnung überfallen und ermordet. Der Raub des Geldes und der Werthsachen wurde vereitelt, die Mörder festgenommen. Ein heißer Kampf wogte in Belgien Heuer um das allgemeine Stimmrecht. Am 49. März 1893 gab der Generalrath der belgischen Arbeiterpartei, welcher Delegirte aller Jndustriecentren, Arbeiterverbindungen und Grubenarbeitervereine umfaßt, den socialistischen Forderungen dadurch einen prägnanten Ausdruck, daß er in seiner Vollversammlung beschloß, einen allgemeiner Streik zu proclamiren, wenn die constituirende Versammlung des Parlamentes das allgemeine Stimmrecht verwerfen oder nur unter Beschränkungen zulassen sollte. Es sollte sich bald Gelegenheit finden, dem Beschlusse die That folgen zu lassen. Am 44. April lehnte die Repräsentantenkammer das allgemeine Stimmrecht ab. Ungeheure Aufregung bemächtigte sich der Arbeitermassen. Der Streikbeschluß trat in ganz Belgien in Wirksamkeit- Lärmende .Aufzüge, Straßenkrawalle traten in Action, ja der Bürgermeister von Brüssel, Buls, wurde als er gelegentlich eines Auflaufs Ordnung stiften wollte, durch einen Schlag auf den Kopf verwundet. Die Kammer fühlte sich durch diese Vorgänge zum Nachgeben gedrängt und in der Sitzung vom 18. April erhielt die Arbeiterpartei wenigstens eine Abschlagszahlung auf ihre Forderung. Es wurde das „Pluralitäts-Wahlsystem" angenommen. Die Führer der belgischen Arbeiterpartei forderten daraufhin ihre Genossen zur Einstellung des Streiks auf, und es zog wieder Ruhe in Belgien ein. Die Schweiz. Von politischen Kämpfen war in diesem gesegneten freien Lande nicht viel zu vernehmen, hingegen hat das grausame Spiel der entfesselten Elemente in diesem Jahre eine beklagenswerth große Zahl von Menschenopfern gefordert. Am 9. Juli ereignete es sich im Hafen von Ouchy am Genfersee, daß plötzlich der Dampfkessel des Seedampfers „Montblanc" explodirte. Das Schiff war mit Passagieren vollbesetzt, die sich zum größten Theile gerade im Speijesaton befanden. Mit furchtbarer Gewalt wurde eine Wand des geborsteteu Kessels gegen den Speisesalon geschleudert, diesen ganz zertrümmernd; ein Strom heißen Wassers mit Dampf vermischt drang nach und verbrühte, was noch nicht zu Tode getroffen kvar. 27 Todte und 24 Schwerverwundete fielen der Katastrophe zum Opfer. Nur wenige Tage darauf, am 12. Juli, zerstörte eine Wehre den fashionablen Curort St. Gervais les Bains. Sei es, daß ein überhängendes Gletscherstück abstürzte oder eine im Gletscher befindliche Wasserblase platzte — die Ursache ist noch immmer nicht ganz klar festgestellt — kurz, ein ungeheurer Wasser- und Schuttstrom stürzte plötzlich das Bett des Bergstroms Bon Nant entlang ins Thal nieder und vertilgte das Dorf gänzlich vom Erdboden. Nicht weniger 460 Menschen, zürn größten Theile Curgäste, fanden dabei ihren Tod. Und einen Monat darauf wurde das Dorf Grindelwald von einer Feuersbrunst heimgesucht, die 800 Häuser zerstörte. Am 22. August wurde durch den Bundespräsidenten Nüchvnnet der internationale Frie- denscongreß eröffnet und währte bis zum 27. Unter den Delegirten befanden sich hervorragende Staatsmänner und Schriftsteller und zahlreiche Zustimmungskundgebungen liefen brieflich oder telegraphisch ein. Nur zwei Ereignisse in dem friedlichen und der ersprießlichen bürgerlichen Arbeit gewidmeten Leben der Schweiz verdienen noch hervorgehoben zu werden: die Besuche zweier Friedensfürsten. Des Kaisers von Oesterreich gelegentlich seines- Besuches bei der Kaiserin in Territet und des Kaiser Wilhelm, der von der silbernen Hochzeitsfeier des italienischen Königspaares heimreisend, in der Schweiz Halt machte. Das Jncognito des Kaisers - von Oesterreich verbot einen feierlichen Empfang. Kaiser Wilhelm jedoch wurde ehrerbietig, aber „in republikanischer Einfachheit", wie sich der Bundesprändent aus- drückte, begrüßt und gefeiert. Wußland. Die alten Sünden, die alte Noth! Rußland ist und bleibt die schwirrende Wunde am Leibe unseres Welttheils. Es ist ein müßiges Beginnen, alle die Jnfectionsstosfe aufzuzählen, von denen dieser Riesenkörper durchseucht ist. Despotismus, Beamtencorruption, Mißwirthschaft — alles das ist oft und oft beklagt worden. Heuer stand es womöglich noch schlimmer als im vorigen Jahre. Herrschte schon früher in vielen Theilen Rußlands wegen der vorjährigen schlechten Ernte Hungersnoth, so steigerte sich dieses Uebel im eben verflossenen Jahre noch mehr; einerseits durch die Speculation, die sich die Taschen füllt, andererseits dadurch, daß die Menschen, die dem nährenden Erdboden als seine Besteller und Pfleger am nächsten stehen, vom Hungertyphus weggerasft wurden. — Daß der Bauer sein Milch- und Zugvieh erschlagen und verspeisen mußte, um nicht Hungers zu sterben, das war schon öfter in Rußland da; was soll man aber sagen, wenn man hört, daß in einzelnen Gouvernements die Hungersnoth so stieg, daß die Leute gemahlene Birkenrinde zu Brot verbacken? Und zu alledem noch die Cholera. Man weiß, wie ein solches großes Sterben nur noch mehr die Noth steigert und damit zugleich die Bestie im Volke entfesselt, namentlich wenn das Volk durch Sclaverei und Branntwein so ver- thiert ist, wie wir es am russischen Muschik sehen. Früher als alle anderen europäischen Sraaten wurde Rußland von der Seuche heimgesucht; es lag ihr eben auf dem Wege. Besonders heftig wurden die GotweruementsSaratow, Woronefch, Samara, Simbirsk, Orenburg betroffen. Aber auch in St. Petersburg selbst kamen viele Erkrankungen und Todesfälle vor; so beispielsweise bis zum 22. August 87 Er- krankungs- und 32 Todesfälle. Zum Hunger und zur Pest gesellte sich als würdiger Dritte der Aberglaube, die Bornirtheit. In vielen Gouvernements, namentlich aber in dem frühest betroffenen Astrachan bildete sich bei der Bevölkerung der Glaube aus, daß die zur Hilfeleistung von der Regierung entsendeten Aerzte als Brunnenvergifter, Menschenvertilger zu betrachten seien. Spitäler wurden gestürmt, Aexzte wurden verfolgt und getödtet — kurz die Bestie in Menschengestalt feierte Orgie um Orgie. In politischer Beziehung sah es nicht viel rosiger aus. Finanzcalamitüten über die alle Ziffernkünste Herrn Wyschnegradsky's nicht hinüberzuhelfen wußten, absolute Creditlosigkeit dem Auslande und den Finanzmächten aegeu- über — alles das machte sich täglich mehr fühlbar. Ja sogar an moralischem und politischem Gewicht hat Rußland in diesem Jahre sichtlich eingebüßt. Man blicke nur auf das frohe Aufblühen Bulgariens, um auf die Vermuthung zu kommen, daß nichts gesünder sein muß, als sich der Feindschaft Rußlands zu erfreuen. Oder war der überaus freundliche Empfang Stambulows beim Sultan nicht etwa eine Niederlage Rußlands? Die nachhinkende Interpellation des Sultans durch den Botschafter in Constantinopel war doch nichts anderes als eine großthuende Formalität, die über diese Schlappe hinwegtänschen sollte. Herr W y s ch n e g r ad s ki, der Finanzkünstler, hat übrigens das Neujahr doch nicht mehr in Amt und Würde gefeiert. Schon lange schwirrten Demissionsgerüchte in der Luft; immer bestimmter traten sie auf und mit ihnen zugleich die Nachricht, daß Witte zu seinem.Nachfolger bestimmt sei. Am .45. September endlich wurde diese Combination endgiltig und officiell verlautbart. — Der Verweser der Schuldenlast Rußlands ist nunmehr wirklich Herr Witte. Unverwüstlich aber ist der alte Giers, der Minister des Aeußern. Altersschwach, gelähmt und kindisch sitzt er in einem südlichen Badeort und weiß kaum mehr, ob er lebt. Aber sein Name ist noch viel lebendiger als der Träger desselben und auf Ja und Nein verbeugt sich eine befrackte Gestalt tief vor der menschlichen Ruine; sie heißt — Carnot. Serbien. Während der minderjährige König Alexander auf dem Thron saß und Ex-König Milan sich in Paris auf seine Weise vergnügte, war das Land ein Spielball der Parteien. Unaufhörlich wogte die Fehde zwischen Radicalen und Liberalen, nur in einer Beziehung waren Beide einig, in ihrer Russenfreundlichkeit. Serbien, ehemals der anhänglichste und meistgeförderte Freund Oesterreich-Ungarns hat diese seine Tradition gänzlich vergessen. Oesterreich hat zwar keine Ursache, sich darüber zu kränken, es braucht Serbien nicht; aber Serbien hat Oesterreich oft gebraucht, und wer weiß, ob nicht wieder ein Zeitpunkt kommt, wo es sich seines mächtigen Nachbarn erinnern wird. Allerdings äußerlich benimmt sich die jeweilige Regierung wie die Regentschaft sehr correct — aber kühl. Zu Anfang Juli vorigen Jahres hatte eben wieder einmal die radicale Partei mit Herrn Pasic an der Spitze gründlich abge- wirthschaftet, und ihr Sturz mußte bei dem nächsten Anlässe erfolgen. Und dieser Anlaß fand sich sehr bald. Am 24. August beantragte der Ministerpräsident in einer Conseilssitzung die Einberufung einer außerordentlichen Skup- schtinasession, zum Zwecke der Wahl eines dritten Regenten an Stelle des am 46. Juni verstorbenen Protic und zur Erledigung des Handelsvertrages mit Oesterreich-Ungarn. Die Regentschaft sprach sich gegen die Einberufung aus und das Ministerium Pasic demissionirte. An seine Stelle trat das liberale Ministerium Avukamovic — natürlich ist dieses auch russenfreundlich. Das Tragischeste an der ganzen Sache ist nur, daß Serbien von seiner ganzen Russenfreundlichkeit nichts hat, und alle Ursache

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